Professor Dr. iur. Dietrich Murswiek
An das Bundesverfassungsgericht Schloßbezirk 3
76131 Karlsruhe
vorab per Fax an: 0721 9101-382
dmurswiek@gmail.com
22.4.2021
Verfassungsbeschwerde
Beschwerdeführer/innen:
1. Carlos A. Gebauer, Düsseldorf
2. M.
3. G.
4. H.
5. Florian Post MdB, München
Namens und kraft Vollmacht der Beschwerdeführer/innen (im folgenden: Bf.), deren
Vollmachten ich in der Anlage beifüge, erhebe ich
Verfassungsbeschwerde
gegen
das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite
Ich stelle den
Antrag,
wie folgt zu entscheiden:
1. Der durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite in das Infektionsschutzgesetz (IfSG) eingefügte § 28b verletzt die Bf. unter folgenden Aspekten in ihren Grundrechten und ist insoweit nichtig:
a) Soweit § 28b Abs. 1 IfSG gemäß Satz 1 die unter Nr. 1-10 aufgeführten Freiheitseinschränkungen an die Überschreitung einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 knüpft, verletzt diese Vorschrift die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art.
2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 6 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1 und
Art. 19 Abs. 4 GG, den Bf. zu 1. auch in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG.
b) § 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG verletzt die Bf. in ihren Grundrechten aus Art. 6 Abs. 1
GG und/oder aus Art. 2 Abs. 1 GG, soweit diese Vorschrift private Zusammenkünfte nur mit höchstens einer Person eines weiteres Haushalts zulässt.
c) § 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG verletzt die Bf. in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2
Satz 2 und Abs. 2 Abs. 1 GG.
d) § 28b Abs. 1 Nr. 5 IfSG verletzt die Bf. in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1
GG, soweit Einrichtungen wie insbesondere Museen und Ausstellungen und entsprechende Veranstaltungen auch dann geschlossen bleiben müssen beziehungsweise verboten sind, wenn sich durch Zugangsbeschränkungen und Hygieneauflagen das Infektionsrisiko in diesen Einrichtungen oder Veranstaltungen auf ein epidemiologisch unbedeutsames Restrisiko verringern lässt.
e) § 28b Abs. 1 Nr. 7 IfSG verletzt die Bf. in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, soweit die Untersagung der Öffnung von Gaststätten die Außengastronomie auch dann umfasst, wenn durch ein geeignetes Schutzkonzept das Infektionsrisiko auf ein epidemiologisch unbedeutsames Restrisiko verringert werden kann.
f) § 28b Abs. 1 Nr. 10 IfSG verletzt die Bf. in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 GG, soweit die Zurverfügungstellung von Übernachtungsmöglichkeiten zu touristischen Zwecken auch dann untersagt wird, wenn der Anbieter durch ein geeignetes Schutzkonzept das Infektionsrisiko auf ein epidemiologisch unbedeutsames Restrisiko verringert.
g) § 28b Abs. 1 IfSG Nr. 9 verletzt die Bf. in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG und aus Art. 3 Abs. 1 GG, soweit die Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske oder vergleichbaren Maske auch für Fahrgäste des Fernverkehrs vorgeschrieben ist.
2. Das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite verletzt die Bf. in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1, Art. 2
Abs. 2 Satz 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 6 Abs. 1, Art. 11 und Art. 19 Abs. 4 GG, den
Bf. zu 1 auch in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG, soweit das Gesetz die
freiheitsbeschränkenden Maßnahmen nicht mit einem Konzept zur Behebung der Gründe für diese Maßnahmen, insbesondere zur Erhöhung der Zahl der verfügbaren Intensivbetten, verbindet.
3. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Bf. die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gliederung
I. Beteiligungsfähigkeit und Beschwerdebefugnis 11
2.Gegenwärtige Betroffenheit 15
3. Unmittelbare Betroffenheit 16
II. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität 16
III. Fehlende Eingriffsrechtfertigung 23
IV. Staatliches Eigenhandeln als Alternative zum Lockdown 48
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet (dazu oben B., C.). 50
2. Die Verfassungsbeschwerde hat grundsätzliche Bedeutung 50
A. Sachverhalt
Der Bundestag hat am 21.4.2021 das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite beschlossen. Der Bundesrat hat dieses Gesetz am 22.4.2021 beraten und den Beschluss gefasst, den Vermittlungsausschuss nicht anzurufen. Das Gesetz ist am 22.4.2021 im Bundesgesetzblatt verkündet worden1 und tritt gemäß Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes am Tag nach der Verkündung, also am 23.4.2021, in Kraft.
Das Gesetz beruht auf dem Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom
13.4.20212 und der vom Gesundheitsausschuss am 19.4.2021 beschlossenen Beschlussempfehlung.3 Die Initiative zu dem Gesetz war von der Bundesregierung ausgegangen, die zur Abkürzung des Gesetzgebungsverfahrens ihren Entwurf nicht selbst eingebracht, sondern ihn als „Formulierungshilfe“ den Regierungsfraktionen zur Einbringung gegeben hatte.4
Durch Art. 1 Nr. 2 des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite wurde folgende Vorschrift in das Infektionsschutzgesetz eingefügt:
§ 28b Bundesweit einheitliche Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) bei besonderem Infektionsgeschehen, Verordnungsermächtigung
(1) Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die durch das Robert Koch-Institut veröffentlichte Anzahl der Neuinfektionen mit dem Corona-virus SARS-CoV-2 je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Sieben-TageInzidenz) den Schwellenwert von 100, so gelten dort ab dem übernächsten Tag die folgenden Maßnahmen:
1. private Zusammenkünfte im öffentlichen oder privaten Raum sind nur gestattet, wenn an ihnen höchstens die Angehörigen eines Haushalts und eine weitere Person einschließlich der zu ihrem Haushalt gehörenden Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres teilnehmen; Zusammenkünfte, die ausschließlich zwischen den Angehörigen desselben Haushalts, ausschließlich zwischen Eheoder Lebenspartnerinnen und -partnern, oder ausschließlich in Wahrnehmung eines Sorgeoder Umgangsrechts oder im Rahmen von Veranstaltungen bis
30 Personen bei Todesfällen stattfinden, bleiben unberührt;
2. der Aufenthalt von Personen außerhalb einer Wohnung oder einer Unterkunft und dem jeweils dazugehörigen befriedeten Besitztum ist von 22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetags untersagt; dies gilt nicht für Aufenthalte, die folgenden Zwecken dienen:
a) der Abwendung einer Gefahr für Leib, Leben oder Eigentum, insbesondere eines medizinischen oder veterinärmedizinischen Notfalls oder anderer medizinisch unaufschiebbarer Behandlungen,
b) der Berufsausübung im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit diese nicht gesondert eingeschränkt ist, der Ausübung des Dienstes oder des Mandats, der
1 BGBl. I 2021, Nr. 18 v. 22.4.2021, S. 802.
2 BT-Drs. 19/28444.
3 BT-Drs. 19/28692.
4 Kabinettsache Datenblatt-Nr.: 19/15093 v. 13.4.2021.
Berichterstattung durch Vertreterinnen und Vertreter von Presse, Rundfunk, Film und anderer Medien,
c) der Wahrnehmung des Sorgeoder Umgangsrechts,
d) der unaufschiebbaren Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen oder Minderjähriger oder der Begleitung Sterbender,
e) der Versorgung von Tieren,
f) aus ähnlich gewichtigen und unabweisbaren Zwecken oder
g) zwischen 22 und 24 Uhr der im Freien stattfindenden allein ausgeübten körperlichen Be-wegung, nicht jedoch in Sportanlagen;
3. die Öffnung von Freizeiteinrichtungen wie insbesondere Freizeitparks, Indoorspielplätzen, von Einrichtungen wie Badeanstalten, Spaßbädern, Hotelschwimmbädern, Thermen und Wellnesszentren sowie Saunen, Solarien und Fitnessstudios, von Einrichtungen wie insbesondere Diskotheken, Clubs, Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen, Prostitutionsstätten und Bordellbetrieben, gewerblichen Freizeitaktivitäten, Stadt-, Gästeund Naturführungen aller Art, Seilbahnen, Flussund Seenschifffahrt im Ausflugsverkehr, touristischen Bahnund Busverkehren und Flusskreuzfahrten, ist untersagt;
4. die Öffnung von Ladengeschäften und Märkten mit Kundenverkehr für Handelsangebote ist untersagt; wobei der Lebensmittelhandel einschließlich der Direktvermarktung, ebenso Getränkemärkte, Reformhäuser, Babyfachmärkte, Apotheken, Sanitätshäuser, Drogerien, Optiker, Hörakustiker, Tankstellen, Stellen des Zeitungs-verkaufs, Buchhandlungen, Blumenfachgeschäfte, Tierbedarfsmärkte, Futtermittelmärkte, Gartenmärkte und der Großhandel mit den Maßgaben ausgenommen sind, dass
a) der Verkauf von Waren, die über das übliche Sortiment des jeweiligen Geschäfts hinaus-gehen, untersagt ist,
b) für die ersten 800 Quadratmeter Gesamtverkaufsfläche eine Begrenzung von einer Kundin oder einem Kunden je 20 Quadratmeter Verkaufsfläche und oberhalb einer Gesamtverkaufsfläche von 800 Quadratmetern eine Begrenzung von einer Kundin oder einem Kunden je 40 Quadratmeter Verkaufsfläche eingehalten wird, wobei es den Kundinnen und Kunden unter Berücksichtigung der konkreten Raumverhältnisse grundsätzlich möglich sein muss, beständig einen Abstand von mindestens 1,5 Metern zueinander einzuhalten und
c) in geschlossenen Räumen von jeder Kundin und jedem Kunden eine Atemschutzmaske (FFP2 oder vergleichbar) oder eine medizinische Gesichtsmaske (Mund-Nase-Schutz) zu tragen ist;
abweichend von Halbsatz 1 ist
a) die Abholung vorbestellter Waren in Ladengeschäften zulässig, wobei die Maßgaben des Halbsatzes 1 Buchstabe a bis c entsprechend gelten und Maßnahmen vorzusehen sind, die, etwa durch gestaffelte Zeitfenster, eine Ansammlung von Kunden vermeiden;
b) bis zu dem übernächsten Tag, nachdem die Sieben-Tage-Inzidenz an drei aufeinander folgenden Tagen den Schwellenwert von 150 überschritten hat, auch die Öffnung von Ladengeschäften für einzelne Kunden nach vorheriger Terminbuchung für einen fest begrenzten Zeitraum zulässig, wenn die Maßgaben des Halbsatzes 1 Buchstabe a und c beachtet werden, die Zahl der gleichzeitig im Ladengeschäft anwesenden Kunden nicht höher ist als ein Kunde je 40 Quadratmeter Verkaufsfläche, die Kundin oder der Kunde ein negatives Ergebnis einer innerhalb von 24 Stunden vor Inanspruchnahme der Leistung mittels eines anerkannten Tests durchgeführten Testung auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorgelegt hat und der Betreiber die Kontaktdaten der Kunden, mindestens Name, Vorname, eine sichere Kontaktinformation (Telefonnummer, E-MailAdresse oder Anschrift) sowie den Zeitraum des Aufenthaltes, erhebt;
5. die Öffnung von Einrichtungen wie Theatern, Opern, Konzerthäusern, Bühnen, Musikclubs, Museen, Ausstellungen, Gedenkstätten sowie entsprechende Veranstaltungen sind untersagt; dies gilt auch für Kinos mit Ausnahme von Autokinos; die Außenbereiche von zoologischen und botanischen Gärten dürfen geöffnet werden, wenn angemessene Schutzund Hygienekonzepte eingehalten werden und durch die Besucherin oder den Besucher,
ausgenommen Kinder, die das 6. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ein negatives Ergebnis einer innerhalb von 24 Stunden vor Beginn des Besuchs mittels eines anerkannten Tests durchgeführten Testung auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorgelegt wird;
6. die Ausübung von Sport ist nur zulässig in Form von kontaktloser Ausübung von Individualsportarten, die allein, zu zweit oder mit den Angehörigen des eigenen Hausstands ausgeübt werden sowie bei Ausübung von Individualund Mannschaftssportarten im Rahmen des Wettkampfund Trainingsbetriebs der Berufssportler und der Leistungssportler der Bundesund Landeskader, wenn
a) die Anwesenheit von Zuschauern ausgeschlossen ist,
b) nur Personen Zutritt zur Sportstätte erhalten, die für den Wettkampfoder Trainingsbetrieb oder die mediale Berichterstattung erforderlich sind, und
c) angemessene Schutzund Hygienekonzepte eingehalten werden;
für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres ist die Ausübung von Sport ferner zulässig in Form von kontaktloser Ausübung im Freien in Gruppen von höchstens fünf Kindern; Anleitungspersonen müssen auf Anforderung der nach Landesrecht zuständigen Behörde ein negatives Ergebnis einer innerhalb von 24 Stunden vor der Sportausübung mittels eines anerkannten Tests durchgeführten Testung auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorlegen;
7. die Öffnung von Gaststätten im Sinne des Gaststättengesetzes ist untersagt; dies gilt auch für Speiselokale und Betriebe, in denen Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle abgegeben werden; von der Untersagung sind ausgenommen:
a) Speisesäle in medizinischen oder pflegerischen Einrichtungen oder Einrichtungen der Betreuung,
b) gastronomische Angebote in Beherbergungsbetrieben, die ausschließlich der Bewirtung der zulässig beherbergten Personen dienen,
c) Angebote, die für die Versorgung obdachloser Menschen erforderlich sind,
d) die Bewirtung von Fernbusfahrerinnen und Fernbusfahrern sowie Fernfahrerinnen und Fernfahrern, die beruflich bedingt Waren oder Güter auf der Straße befördern und dies jeweils durch eine Arbeitgeberbescheinigung nachweisen können,
e) nichtöffentliche Personalrestaurants und nichtöffentliche Kantinen, wenn deren Betrieb zur Aufrechterhaltung der Arbeitsabläufe beziehungsweise zum Betrieb der jeweiligen Einrichtung zwingend erforderlich ist, insbesondere, wenn eine individuelle Speiseneinnahme nicht in getrennten Räumen möglich ist;
ausgenommen von der Untersagung sind ferner die Auslieferung von Speisen und Getränken sowie deren Abverkauf zum Mitnehmen; erworbene Speisen und Getränke zum Mitnehmen dürfen nicht am Ort des Erwerbs oder in seiner näheren Umgebung verzehrt werden; der Abverkauf zum Mitnehmen ist zwischen 22 Uhr und 5 Uhr untersagt; die Auslieferung von Speisen und Getränken bleibt zulässig;
8. die Ausübung und Inanspruchnahme von Dienstleistungen, bei denen eine körperliche Nähe zum Kunden unabdingbar ist, ist untersagt; wobei Dienstleistungen, die medizinischen, therapeutischen, pflegerischen oder seelsorgerischen Zwecken dienen, sowie Friseurbetriebe und die Fußpflege jeweils mit der Maßgabe ausgenommen sind, dass von den Beteiligten unbeschadet der arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen und, soweit die Art der Leistung es zulässt, Atemschutzmasken (FFP2 oder vergleichbar) zu tragen sind und vor der Wahrnehmung von Dienstleistungen eines Friseurbetriebs oder der Fußpflege durch die Kundin oder den Kunden ein negatives Ergebnis einer innerhalb von 24 Stunden vor Inanspruchnahme der Dienstleistung mittels eines anerkannten Tests durchgeführten Testung auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorzulegen ist;
9. bei der Beförderung von Personen im öffentlichen Personennahoder -fernverkehr einschließlich der entgeltlichen oder geschäftsmäßigen Beförderung von Personen mit Kraftfahrzeugen samt Taxen und Schülerbeförderung besteht für Fahrgäste sowohl während der Beförderung als auch während des Aufenthalts in einer zu dem jeweiligen Verkehr gehörenden Einrichtung die Pflicht zum Tragen einer Atemschutzmaske (FFP2 oder vergleichbar); eine Höchstbeset-
zung der jeweiligen Verkehrsmittel mit der Hälfte der regulär zulässigen Fahrgastzahlen ist anzustreben; für das Kontrollund Servicepersonal, soweit es in Kontakt mit Fahrgästen kommt, gilt die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske (Mund-Nase-Schutz);
10.die Zurverfügungstellung von Übernachtungsangeboten zu touristischen Zwecken ist untersagt.
Das Robert Koch-Institut veröffentlicht im Internet unter https://www.rki.de/inzidenzenfür alle Landkreise und kreisfreien Städte fortlaufend die Sieben-Tage-Inzidenz der letzten 14 aufeinander folgenden Tage. Die nach Landesrecht zuständige Behörde macht in geeigneter Weise die Tage bekannt, ab dem die jeweiligen Maßnahmen nach Satz 1 in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt gelten. Die Bekanntmachung nach Satz 3 erfolgt unverzüglich, nachdem aufgrund der Veröffentlichung nach Satz 2 erkennbar wurde, dass die Voraussetzungen des Satzes
1 eingetreten sind.
(2) Unterschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt ab dem Tag nach dem Eintreten der Maßnahmen des Absatzes 1 an fünf aufeinander folgenden Werktagen die Sieben-TageInzidenz den Schwellenwert von 100, so treten an dem übernächsten Tag die Maßnahmen des Absatzes 1 außer Kraft. Sonnund Feiertage unterbrechen nicht die Zählung der nach Satz 1 maßgeblichen Tage. Für die Bekanntmachung des Tages des Außerkrafttretens gilt Absatz 1
Satz 3 und 4 entsprechend. Ist die Ausnahme des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 4 Halbsatz 2
Buchstabe b wegen Überschreitung des Schwellenwerts von 150 außer Kraft getreten, gelten die
Sätze 1 bis 3 mit der Maßgabe entsprechend, dass der relevante Schwellenwert bei 150 liegt.
(3) Die Durchführung von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen ist nur zulässig bei Einhaltung angemessener Schutzund Hygienekonzepte; die Teilnahme am Präsenzunterricht ist nur zulässig für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte, die zweimal in der Woche mittels eines anerkannten Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARSCoV-2 getestet werden. Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 100, so ist die Durchführung von Präsenzunterricht ab dem übernächsten Tag für allgemeinbildende und berufsbildende Schulen, Hochschulen, außerschulische Einrichtungen der Erwachsenenbildung und ähnliche Einrichtungen nur in Form von Wechselunterricht zulässig. Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-TageInzidenz den Schwellenwert von 165, so ist ab dem übernächsten Tag für allgemeinbildende und berufsbildende Schulen, Hochschulen, außerschulische Einrichtungen der Erwachsenenbildung und ähnliche Einrichtungen die Durchführung von Präsenzunterricht untersagt. Abschlussklassen und Förderschulen können durch die nach Landesrecht zuständige Behörde von der Untersagung nach Satz 3 ausgenommen werden. Die nach Landesrecht zuständigen Stellen können nach von ihnen festgelegten Kriterien eine Notbetreuung einrichten. Für das Außerkrafttreten der Untersagung nach Satz 3 gilt Absatz 2 Satz 1 und 2 mit der Maßgabe entsprechend, dass der relevante Schwellenwert bei 165 liegt. Für die Bekanntmachung des Tages, ab dem die Untersagung nach Satz 3 in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt gilt, gilt Absatz 1 Satz 3 und 4 entsprechend. Für die Bekanntmachung des Tages des Außerkrafttretens nach Satz 6 gilt Absatz
2 Satz 3 entsprechend. Für Einrichtungen nach § 33 Nummer 1 und 2 gelten die Sätze 3 und 5 bis 7 entsprechend.
(4) Versammlungen im Sinne des Artikels 8 des Grundgesetzes sowie Zusammenkünfte, die der Religionsausübung im Sinne des Artikels 4 des Grundgesetzes dienen, unterfallen nicht den Beschränkungen nach Absatz 1.
(5) Weitergehende Schutzmaßnahmen auf Grundlage dieses Gesetzes bleiben unberührt.
(6) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung folgende Gebote und Verbote zu erlassen sowie folgende Präzisierungen, Erleichterungen oder Ausnahmen zu bestimmen:
1. für Fälle, in denen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 100 überschreitet, zusätzliche Gebote und Verbote nach § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 und § 28a Absatz 1 zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19),
2. Präzisierungen, Erleichterungen oder Ausnahmen zu den in den Absätzen 1, 3 und 7 genannten Maßnahmen und nach Nummer 1 erlassenen Geboten und Verboten.
Rechtsverordnungen der Bundesregierung nach Satz 1 bedürfen der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat.
(7) Der Arbeitgeber hat den Beschäftigten im Fall von Büroarbeit oder vergleichbaren Tätigkeiten anzubieten, diese Tätigkeiten in deren Wohnung auszuführen, wenn keine zwingenden betriebsbedingten Gründe entgegenstehen. Die Beschäftigten haben dieses Angebot anzunehmen, soweit ihrerseits keine Gründe entgegenstehen. Die zuständigen Behörden für den Vollzug der Sätze 1 und 2 bestimmen die Länder nach § 54 Satz 1.
(8) Das Land Berlin und die Freie und Hansestadt Hamburg gelten als kreisfreie Städte im Sinne dieser Vorschrift.
(9) Anerkannte Tests im Sinne dieser Vorschrift sind In-vitro-Diagnostika, die für den direkten Erregernachweis des Coronavirus SARS-CoV-2 bestimmt sind und die auf Grund ihrer CE-Kennzeichnung oder auf Grund einer gemäß § 11 Absatz 1 des Medizinproduktegesetzes erteilten Sonderzulassung verkehrsfähig sind. Soweit nach dieser Vorschrift das Tragen einer Atemschutzmaske oder einer medizinischen Gesichtsmaske vorgesehen ist, sind hiervon folgende Personen ausgenommen:
1. Kinder, die das 6. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
2. Personen, die ärztlich bescheinigt aufgrund einer gesundheitlichen Beeinträchtigung, einer ärztlich bescheinigten chronischen Erkrankung oder einer Behinderung keine Atemschutzmaske tragen können und
3. gehörlose und schwerhörige Menschen und Personen, die mit diesen kommunizieren, sowie ihre Begleitpersonen.
(10) Diese Vorschrift gilt nur für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 durch den Deutschen Bundestag, längstens jedoch bis zum Ablauf des 30. Juni 2021. Dies gilt auch für Rechtsverordnungen nach Absatz 6. (11) Die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes), der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden eingeschränkt und können auch durch Rechtsverordnungen nach Absatz 6 eingeschränkt werden.“
Außerdem bestimmt Art. 1 in Nr. 3-6:
3. Nach § 28b wird folgender § 28c eingefügt:
„§ 28c Verordnungsermächtigung für besondere Regelungen für Geimpfte, Getestete und vergleichbare Personen
Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung für Personen, bei denen von einer Immunisierung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auszugehen ist oder die ein negatives Ergebnis eines Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 vorlegen können, Erleichterungen oder Ausnahmen von Geboten und Verboten nach dem fünften Abschnitt dieses Gesetzes oder von aufgrund der Vorschriften im fünften Ab-schnitt dieses Gesetzes erlassenen Geboten und Verboten zu regeln. Rechtsverordnungen der Bundesregierung nach Satz 1 bedürfen der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat.“
4. § 32 wird wie folgt gefasst:
§ 32 Erlass von Rechtsverordnungen
Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28, 28a und 29 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Die Landesregierungen können die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf andere Stellen übertragen. Die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes), der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgeset-
zes), der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) und des Briefund Postgeheimnisses (Artikel 10 des Grundgesetzes) können insoweit eingeschränkt werden.“
5. § 73 Absatz 1a wird wie folgt geändert:
a) Nach Nummer 11a werden die folgenden Nummern 11b bis 11m eingefügt:
„11b. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 erster Halbsatz an einer Zusammenkunft teilnimmt,
11c. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 erster Halbsatz sich außerhalb einer Wohnung, einer Unterkunft oder des jeweils dazugehörigen befriedeten Besitztums aufhält,
11d. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 eine dort genannte Einrichtung öffnet,
11e. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 erster Halbsatz ein Ladengeschäft oder einen
Markt öffnet,
11f. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 erster Halbsatz, auch in Verbindung mit Nummer
5 zweiter Halbsatz, eine dort genannte Einrichtung öffnet oder eine Veranstaltung durchführt,
11g. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 6 erster Halbsatz Sport ausübt,
11h. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 7 erster Halbsatz, auch in Verbindung mit Nummer
7 zweiter Halbsatz, eine Gaststätte öffnet,
11i. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 7 fünfter Halbsatz eine Speise oder ein Getränk verzehrt,
11j. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 7 sechster Halbsatz eine Speise oder ein Getränk abverkauft,
11k. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 8 erster Halbsatz eine Dienstleistung ausübt oder in Anspruch nimmt,
11l. entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 9 erster oder dritter Halbsatz eine dort genannte Atemschutzmaske oder Gesichtsmaske nicht trägt, 11m.entgegen § 28b Absatz 1 Satz 1 Nummer 10 ein Übernachtungsangebot zur Verfügung stellt,“.
b) In Nummer 24 werden nach den Wörtern „§ 23 Absatz 8 Satz 1 oder Satz 2“ ein Komma und die Wörter „§ 28b Absatz 6 Satz 1 Nummer 1“ eingefügt.
6. Dem § 77 werden die folgenden Absätze 6 und 7 angefügt:
„(6) Für die Zählung der nach § 28b Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 Satz 2 maßgeblichen Tage werden die drei unmittelbar vor dem 23. April 2021 liegenden Tage mitgezählt. In Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen die Sieben-Tage-Inzidenz an den drei unmittelbar vor dem 23. April 2021 liegenden Tagen den nach § 28b Absatz 1 und 3 jeweils maßgeblichen Schwellenwert überschritten hat, gelten die Maßnahmen nach § 28b Absatz 1 und 3 ab dem 24. April 2021. In den Fällen des Satzes 2 macht die nach Landesrecht zuständige Behörde den Tag, ab dem die Maßnahmen nach § 28b Absatz 1 und 3 gelten, am 23. April 2021 bekannt.
(7) Bis zum Erlass einer Rechtsverordnung nach § 28c bleiben landesrechtlich geregelte Erleichterungen oder Ausnahmen von Geboten und Verboten nach dem fünften Abschnitt dieses Gesetzes für Personen, bei denen von einer Immunisierung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auszugehen ist, unberührt.“
Gegen diese Gesetzesänderung wendet sich die vorliegende Verfassungsbeschwerde. Die Bf. sind deutsche Staatsangehörige und haben ihren Wohnsitz und Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik Deutschland, also im Geltungsbereich des Infektionsschutzgesetzes.
Der Bf. zu 1. ist Rechtsanwalt (Fachanwalt für Medizinrecht) in einer Kanzlei in Düsseldorf. Die Bf. zu 2 ist pensionierte Oberstudienrätin. Der Bf. zu 3. ist Journalist i.R. Die Bf. zu 4. ist Kostümund Bühnenbildnerin i.R. Der Bf. zu 5 ist Bundestagsabgeordneter und gehört der SPD-Fraktion an.
Ausführungen zur Betroffenheit der Bf. durch die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen gesetzlichen Regelungen werden im Rahmen der Darlegung der Zulässigkeit (unten B.) gemacht.
B. Zulässigkeit
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
I. Beteiligungsfähigkeit und Beschwerdebefugnis
Die Bf. sind beteiligungsfähig und beschwerdebefugt. Sie wenden sich gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt – das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite – und machen die Verletzung eigener Grundrechte geltend. Die geltend gemachte Grundrechtsverletzung betrifft sie selbst (1.), gegenwärtig (2.) und unmittelbar (3.).
Die Grundrechtsverletzung erscheint auch als möglich, wie sich aus den Ausführungen ergibt, die unten (C.) zur Begründetheit gemacht werden.
1. Selbstbetroffenheit
a) Sämtliche Bf.
Die Bf. machen die Verletzung eigener Grundrechte geltend. Alle Verbote des § 28b Abs.
1 IfSG betreffen sie selbst in ihren eigenen Grundrechten.
Das gilt zunächst für alle Verbote, die an alle Menschen – somit auch an die Bf. – adressiert sind. Hierbei handelt es sich um die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG, die Ausgangssperre gemäß Nr. 2, die Einschränkung der Sportausübung gemäß Nr. 6, das Verbot beziehungsweise die Beschränkung der Inanspruchnahme von Dienstleistungen gemäß Nr. 8 und die Maskenpflichten gemäß Nr. 4c und Nr. 9.
Aber auch die Verbote, die nicht an jedermann adressiert sind, betreffen die Bf. in ihren eigenen Grundrechten. Verboten sind die Öffnung von Freizeiteinrichtungen (Nr. 3), die Öffnung von Ladengeschäften (mit bestimmten Ausnahmen, Nr. 4), die Öffnung von Kultureinrichtungen und kulturelle Veranstaltungen (Nr. 5) sowie die Zurverfügungstellung von Übernachtungsangeboten zu touristischen Zwecken (Nr. 10). Diese Verbote und Beschränkungen betreffen nicht nur die Adressaten in ihren Grundrechten, sondern auch diejenigen Menschen, die wegen der Verbote oder Einschränkungen die betreffenden Einrichtungen, Veranstaltungen oder Dienstleistungen nicht beziehungsweise nicht in der
gewünschten Weise nutzen können. Die betreffenden Verbote und Beschränkungen machen den Bf. die von ihnen gewünschte Grundrechtsausübung unmöglich.
Alle Gebote und Verbote des § 28b Abs. 1 IfSG betreffen die Bf. zumindest in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Die allgemeine Handlungsfreiheit schützt (wie auch die speziellen Freiheitsrechte) die individuelle Autonomie. Die eigene Betroffenheit ergibt sich bereits daraus, dass die Bf. nicht so handeln können, wie sie aufgrund freier Willensentschließung handeln könnten, wenn es die betreffenden Gebote und Verbote nicht gäbe. Jede nicht gerechtfertigte Einschränkung autonomer Willensentscheidungen verletzt Art. 2 Abs. 1 GG.
Die Selbstbetroffenheit ist beispielsweise hinsichtlich § 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG bereits einfach deshalb gegeben, weil die Bf. sich nachts nicht außerhalb einer Wohnung aufhalten dürfen. Ob sie das nächtliche Verlassen der Wohnung für die nächste Zeit konkret geplant haben, ist irrelevant. Es reicht aus, dass das Gesetz die Freiheit einschränkt, sich zum nächtlichen Verlassen der Wohnung zu entschließen. Entsprechendes gilt für alle anderen Freiheitseinschränkungen des § 28b Abs. 1 IfSG, beispielsweise die Verhinderung von Museumsbesuchen (Nr. 5) oder die Einschränkung der Sportausübung (Nr. 6).
Obwohl dies zur Darlegung der Selbstbetroffenheit somit nicht erforderlich ist, soll im folgenden (sic!) noch gezeigt werden, inwiefern die Bf. durch die Regelungen des § 28b Abs. 1 IfSG ganz besondersin ihrer Freiheit betroffen sind.
b) Der Bf. zu 1.
Der Bf. zu 1., der als Rechtsanwalt in Düsseldorf arbeitet und in D. wohnt, macht über die bereits dargelegte Betroffenheit hinaus geltend, dass ihn die nächtliche Ausgangssperre (§ 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG) intensiv in seiner Berufstätigkeit treffe, obwohl in lit. b) eine Ausnahme für die Berufstätigkeit vorgesehen ist. Auch ist er durch die Schließung der Gastronomie § 28b Abs. 1 Nr. 7 IfSG wegen seiner vielen Dienstreisen besonders betroffen. Er führt dazu folgendes aus:
„Derzeit rund 600 parallel geführte Rechtsstreitigkeiten, die überwiegend mit nicht‐digitalisierten Akten geführt werden, machen unabweisbar, die personelle und sächliche Büroorganisation vor Ort nutzen zu können. Der tägliche Zu- und Abgang der Post unter dem Erfordernis verläßlicher Kommunikation und Fristwahrung macht rein handwerklich die Präsenz im Büro zwingend.
Die Besprechung und Beratung von Mandanten, die Opfer medizinischer Fehlbehandlung geworden sind, lässt sich angemessen empathisch weder telefonisch, noch auch per Videokonferenz darstellen. Der Anwalt eines Behinderten, eines Kranken und durchaus auch der Anwalt von Hinterbliebenen muss sich mit den Betroffenen persönlich treffen können, um angemessen mit ihnen kommunizieren zu können.
Diese Umstände erfordern die uneingeschränkte Mobilität zwischen Heim (Duisburg) und Büro
(Düsseldorf).
Aktuell habe ich gerichtliche Rechtsstreitigkeiten in 12 Bundesländern anhängig (keine Verfahren im Saarland, in Bremen, in Sachsen‐Anhalt und in Brandenburg). Die Wahrnehmung von Terminen setzt Reisen voraus; die Sicherstellung der rechtzeitigen Anwesenheit vor Ort kann entfernungsbedingt Übernachtungen erfordern; auch Anwälte müssen sich auf Dienstreisen versorgen können, was durch das Verbot der Öffnung von Gaststätten (§ 28a I Nr. 13 IfSG) erheblich erschwert wird.
Selbst wenn eine nächtliche Ausgangssperre nach 22 Uhr für Berufstätige nicht gilt, so besteht kontinuierlich die Notwendigkeit, die berufliche Veranlassung nachweisen zu können/zu müssen. Wie soll sich eine unterbrechungsfreie Reise von Düsseldorf nach Schwerin, nach München oder nach Leipzig darstellen, wenn kontinuierlich und überall die Möglichkeit gegeben ist, den Reisenden polizeilich nach der Legitimität seiner Reise prüfen zu dürfen?“
c) Die Bf. zu 2.
Die Bf. zu 2. hat vier Kinder und fünf Enkelkinder, die in einiger Entfernung von ihrem Wohnort leben. Sie ist mit den Kindern und Enkelkindern sehr verbunden, und es ist ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens, mit ihnen Kontakt zu pflegen und am Aufwachsen der Enkelkinder teilzuhaben. Dies wird durch § 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG erheblich erschwert, weil sie Besuche bei den Kindern und Enkelkindern nur noch allein und nicht gemeinsam mit ihrem Ehemann machen kann. Umgekehrt dürfen die Kinder mit den Enkeln nur noch ohne ihre Ehegatten zu Besuch kommen. Da die Ehepaare aufgrund der Berufstätigkeit nur begrenzte Zeit gemeinsam verbringen können, ist dies ein erhebliches Hindernis für solche Besuche. Dadurch wird nicht nur die allgemeine Handlungsfreiheit, sondern auch das Recht auf Ehe und Familie der Bf. zu 2. erheblich beeinträchtigt.
Die Bf. zu 2. macht seit Jahrzehnten regelmäßig Nachtspaziergänge. Sie genießt die Stille und den Sternenhimmel, macht aber auch bei Regenwetter ihre nächtliche Runde. Diese Spaziergänge gehören zu ihrem Lebensrhythmus, und sie fühlt sich in ihrem Befinden stark beeinträchtigt, wenn sie darauf verzichten muss. Seitdem seit einigen Jahren immer wieder Übergriffe auf Frauen, die allein unterwegs waren, gemeldet wurden, fühlt die Bf. zu 2. sich bei nächtlichen Spaziergängen allein nicht mehr sicher. Deshalb ist es für sie wichtig, von ihrem Ehemann begleitet werden zu können.
Die Bf. zu 2. besucht sehr gerne Theater- und Opernaufführungen sowie Konzerte, auch Museen, insbesondere Kunstmuseen sowie Kunstausstellungen. Sie ist im übrigen ehrenamtlich als Vorstandsmitglied in einem Kulturverein (Kulturkreis D.) tätig und organisiert Kulturveranstaltungen wie Konzerte, Kleinkunstveranstaltungen, Vorträge – insgesamt zwischen 40 und 50 Veranstaltungen pro Jahr. Seit dem ersten Corona-Lockdown vor einem Jahr mussten die meisten Veranstaltungen ausfallen. Da nicht absehbar ist, wie lange die Veranstaltungsverbote dauern und dass die Veranstaltungen lange im voraus geplant werden müssen, stehen die Veranstalter vor der Alternative, die Planung bis zum Ende der Epidemie völlig einzustellen oder in der ungewissen Hoffnung zu planen, dass die Veranstaltungen stattfinden können. Die Bf. zu 2. hat sich für letzteres entschieden, um den Künstlern Auftritte zu ermöglichen, wenn irgend es möglich ist – muss allerdings häufig umplanen, Termine verschieben, Veranstaltungen absagen. Die Veranstaltungsverbote gemäß § 28b Abs. 1 Nr. 5 IfSG treffen sie schwer in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, denn die Organisation von Kulturveranstaltungen ist nach ihrer Pensionierung als Lehrerin ein Schwerpunkt ihrer Lebenstätigkeit.
Durch die Untersagung der Öffnung von Gaststätten (§ 28b Abs. 1 Nr. 7 IfSG) ist die Bf. zu 2. wie jeder andere Mensch betroffen, der gerne zum Essen in ein Restaurant oder zum Kaffeetrinken in ein Café geht. Darüber hinaus gehört ein gemeinsames Mittagessen mit dem Vortragredner oder den Künstlern, die in ihrem Kulturverein auftreten, zur unerlässlichen Kontaktpflege. Als leidenschaftliche Wanderin vermisst die Bf. zu 2. auch die
Möglichkeit, auf ihren Wanderungen in ein Wirtshaus oder eine Berghütte einzukehren oder wenn möglich im Garten oder auf der Terrasse des Wirtshauses ihre Pause einzulegen.
Auch das Beherbergungsverbot (§ 28b Abs. 1 Nr. 10 IfSG) trifft die Bf. zu 2. schwer, weil es jeden Urlaub im Inland verhindert und weil sie insbesondere nicht zum Wandern in die Berge fahren kann.
d) Die Bf. zu 3. und 4.
Die Bf. zu 3. und 4. sind besonders intensiv durch die Kontakteinschränkungen (§ 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG betroffen. Sie sind ein Ehepaar, das in die Betreuung ihrer beiden (3 und 5 Jahre alten Enkelkinder) eingebunden ist. Meistens übernimmt die Bf. zu 4. die Betreuung – regelmäßig einmal pro Woche und zusätzlich nach Bedarf. Das Ehepaar muss dafür mit dem Auto von H. nach W. fahren, wo ihre Tochter H. mit ihrem Ehemann und den beiden Enkelkindern lebt. Die Fahrzeit beträgt auf der kürzesten, etwa 10 km langen Strecke, ca. 20-25 Minuten. Die Bf. zu 4. hat keinen Führerschein und ist darauf angewiesen, dass ihr Ehemann sie fährt. Da gemäß § 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG nur noch eine weitere Person zu den Haushalt der Tochter besuchen darf, kann der Bf. zu 3. seine Ehefrau, die Bf. zu 4., immer nur abliefern und muss dann wieder nach Hause fahren und am Abend wieder abholen.
Eine Fahrt mit dem ÖPNV von H. nach W. ist nur über eine wesentlich längere Strecke über die H. Innenstadt – N. – N. nach W. möglich mit einer Gesamtreisezeit bei zweimaligem Umsteigen von mindestens 90 Minuten. Eine direkte Busverbindung von H.-Stadtmitte nach W. gibt es nur alle 4 Stunden. Aber nicht nur wegen der langen Fahrzeiten ist die Anund Abreise mit dem ÖPNV für die Bf. zu 3. und 4. unzumutbar.
In gleicher Weise erschwert sind für die Bf. zu 3. und zu 4. familiäre Hilfeleistungen für den Bruder des Bf. zu 3 (79) und seiner Frau (76) im L. Stadtteil G. zu. Beide sind gesundheitlich stark angeschlagen und haben große Schwierigkeiten, sich allein zu versorgen.
Das Leben der Bf. zu 3. und 4. war „vor Corona“ durch regelmäßige Restaurantbesuche, Biergartenbesuche, Städtereisen, Konzertund Opernbesuche geprägt, was ihnen durch die Maßnahmen gemäß § 28b Abs. 1 Nr. 7, 10 und 5 IfSG unmöglich gemacht wird und für sie eine starke Einbuße an Lebensqualität bedeutet.
e) Der Bf. zu 5.
Der Bf. zu 5. ist ganz besonders durch die nächtliche Ausgangssperre (§ 28b Abs. 1 Nr.
2 IfSG) betroffen, und zwar unter folgenden Aspekten: Es ist für ihn eine liebgewordene Tradition, an seinem Wohnort in München nachts noch mit seiner Frau oder gelegentlich auch mit einer anderen, nicht zum Haushalt gehörenden Person, durchs Viertel zu schlendern, und zwar auch nach 22 Uhr. Auch besucht er regelmäßig ein befreundetes Ehepaar, das in der Nachbarschaft wohnt und mit denen er sich zu Gesprächen beim Wein trifft. Wegen seiner vielen politischen Termine hat er für solche Besuche erst spät am Abend
Zeit. Die Besuche beginnen mitunter erst nach 22 Uhr und dauern jedenfalls länger als bis 22 Uhr, mitunter auch länger als bis 0 Uhr. An den Wochenenden hält er sich häufig am Tegernsee bei Verwandten auf und kehrt erst nach 22 Uhr oder sogar nach 0 Uhr zurück. Durch die Ausgangssperre wird seine Möglichkeit, sich am Wochenende zu erholen daher stark eingeschränkt. Außerdem ist ein Hobby des Bf. zu 5. die Wildbeobachtung. Dazu fährt er in aller Frühe, etwa um 3 Uhr morgens in den Wald. Diesem Hobby kann er wegen der Ausgangssperre nicht nachgehen
Besonders betroffen ist der Bf. zu 5. darüber hinaus durch das Totalverbot der Öffnung von Gaststätten. Zu seinen Gewohnheiten gehört es, nach getaner Arbeit sich auf der Außenterrasse eines Lokals an seinem Wohnort bei einem Glas Bier oder Wein zu entspannen.
2.Gegenwärtige Betroffenheit
Das Gesetz tritt am 23.4.2021 in Kraft. Die Verbote und sonstigen Freiheitsbeschränkungen des § 28b Abs. 1 IfSG wirken unmittelbar. Die Freiheit wird nicht erst später durch Vollzugsakte eingeschränkt, sondern die Freiheitseinschränkungen gelten unmittelbar kraft Gesetzes.
Da die Verbote und sonstigen Freiheitseinschränkungen des § 28b Abs. 1 IfSG an die Voraussetzung geknüpft sind, dass in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 100 überschreitet, stellt sich die Frage, ob die Gegenwärtigkeit der Betroffenheit auch dann zu bejahen ist, wenn im Zeitpunkt der Einreichung der Verfassungsbeschwerde am Wohnort des jeweiligen Bf. die genannte Voraussetzung nicht erfüllt ist.
Diese Frage muss bejaht werden. Die Erfahrung der letzten Monate hat gezeigt, dass das Infektionsgeschehen zum einen wellenartig verläuft und sich schnell ändert und dass zum anderen lokale Infektionscluster – z.B. in einem Altenheim, einer Flüchtlingsunterkunft, einer Fleischfabrik oder einem Gefängnis – die Inzidenz des ganzen Landkreises in die Höhe und über den Schwellenwert treiben können. Jeder Einzelne muss also seine Lebensplanung so einrichten, dass er mit dem jederzeitigen Wirksamwerden der Verbote des § 28b Abs. 1 IfSG rechnen muss. Es wäre auch nicht zumutbar, mit der Verfassungsbeschwerde zu warten, bis der Schwellenwert überschritten wird, weil die Verfassungsbeschwerde der einzige zur Verfügung stehende Rechtsbehelf ist, und dieser Rechtsbehelf käme angesichts der üblichen Dauer von Verfassungsbeschwerdeverfahren zu spät, um effektiven Rechtsstaat zu bieten.
Abgesehen hiervon liegen die Inzidenzwerte in Deutschland durchschnittlich weit über dem Schwellenwert. Das Robert-Koch-Institut (RKI) gibt die Inzidenz für Deutschland zur Zeit mit 162 an. Es gibt nur wenige Landkreise, die zur Zeit eine Inzidenz von unter
100 aufweisen.
Am Wohn- und am Arbeitsort des Bf. zu 1 liegt die Inzidenz gegenwärtig über 190 (D.)
beziehungsweise 140 (Düsseldorf).
Am Wohnort der Bf. zu 2 – Landkreis B. – beträgt der Inzidenzwert gegenwärtig 74, nachdem er vor einigen Tagen noch bei 86 lag.
Es kann allerdings nicht allein auf den Wohnort oder den Arbeitsort ankommen. Die gegenwärtige Betroffenheit ist auch dann zu bejahen, wenn an dem Ort, an dem jemand seine Freiheitsrechte ausüben und z.B. eine Übernachtungsmöglichkeit wahrnehmen möchte, der Schwellenwert überschritten ist. Da dies gegenwärtig für die meisten Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland gilt,5 ist die Gegenwärtigkeit der Beschwer auch dann zu bejahen, wenn man der oben vertretenen Auffassung nicht folgt, dass es ohnehin nicht darauf ankommt, ob die Verbote des § 28b Abs. 1 IfSG wegen Überschreitung des Schwellenwerts gegenwärtig gelten oder nicht. Die Bf. zu 2. besucht beispielsweise regelmäßig ihr Enkelkind in T. (Inzidenz im Landkreis zur Zeit über 170) und ihre Enkelkinder in G. (Landkreis R. mit Inzidenz zur Zeit über 200).
Die Bf. zu 3. und 4. leben in H., wo die Inzidenz zur Zeit 105 beträgt.6
Der Bf. zu 5. lebt in München (Inzidenz 155) und ist als Abgeordneter in Berlin tätig
(Inzidenz Berlin-Mitte 157).
Somit sind alle Bf. durch § 28b Abs. 1 IfSG gegenwärtig betroffen.
3. Unmittelbare Betroffenheit
Die Bf. sind durch die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen gesetzlichen Regelungen auch unmittelbarin ihren Grundrechten betroffen. Die Verbote und sonstigen Freiheitseinschränkungen des § 28b Abs. 1 IfSG bedürfen keines Vollzugsaktes, sondern wirken unmittelbar kraft Gesetzes.
Die Freiheitseinschränkungen der Bf. sind auch nicht von freien Willensentschließungen beziehungsweise darauf beruhender Verhaltensweisen Dritter abhängig. Das versteht sich von selbst, soweit sie Adressaten dieser Regelungen sind (§ 28b Abs. 1 Nr. 1, 2, 6, 8 und hinsichtlich der Maskenpflicht auch Nr. 4c und 9 IfSG). Aber auch hinsichtlich der Regelungen, die andere Adressaten haben, sind die Bf. unmittelbar betroffen. Zwar hängt die Möglichkeit, beispielsweise ein Museum oder einen Biergarten zu besuchen, davon ab, dass der jeweilige Betreiber das Museum oder den Biergarten geöffnet hat. Da aber das Gesetz die Öffnung verbietet, hat der Betreiber rechtlich gar nicht die Möglichkeit, sich für oder gegen die Öffnung zu entscheiden. Die faktische Unmöglichkeit, das Museum oder den Biergarten zu besuchen, ist daher rechtlich nicht einer freien Entscheidung Dritter, sondern dem Staat – nämlich dem Gesetzgeber – zuzurechnen.
II. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität
Einen fachgerichtlichen Rechtsweg gegen Gesetze gibt es nicht. Somit steht § 90 Abs. 2
Satz 1 BVerfGG der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen.
5 In 359 von 462 Landkreisen und kreisfreien Städten ist gegenwärtig der Inzidenzwert 100 überschritten, RKI, Täglicher Lagebericht, Stand: 20.4.2021, https://www.rki.de/DE/Content/In-
fAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Apr_2021/2021-04-20-de.pdf?
tionFile (abgerufen am 21.4.2021).
blob=publica-
6 Alle Inzidenzwerte laut RKI, Covid-19-Dashboard, https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4 (Stand: 20.4.2021).
Auch der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde macht die vorliegende Verfassungsbeschwerde nicht unzulässig. Es ist den Bf. nicht möglich, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde auf zumutbare Weise Rechtsschutz bei den Fachgerichten zu erlangen.
Zwar könnten die Bf. die Verbote beziehungsweise Gebote des § 28b Abs. 1 IfSG zunächst einfach unbeachtet lassen und sich dann gegen Sanktionen gerichtlich zur Wehr setzen. Dies ist jedoch nicht zumutbar. Die Verbote und Gebote des § 28b Abs. 1 IfSG sind bußgeldbewehrt (§ 73 Abs. 1a Nr. 11b-11k IfSG – in das IfSG eingefügt durch Art.
1 Nr. 4 des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite). Nach der Rechtsprechung ist es den Bf. nicht zuzumuten, gegen eine beanstandete Norm zu verstoßen, um dann in einem Strafoder OWiG-Verfahren verfassungsrechtliche Einwände erheben zu können.7 Im Falle des Bf. zu 1. stünde dann gegebenenfalls auch ein Berufsrechtsverstoß im Raum (§§ 43, 43a BRAO), was zusätzlich nicht zumutbar erscheint.
Theoretisch ist es zwar denkbar, dass die Bf. in bezug auf diejenigen Verbote oder anderen Freiheitseinschränkungen, von denen sie als Adressaten betroffen sind, verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage erheben mit dem Antrag auf Feststellung, nicht an die betreffenden Vorschriften gebunden zu sein. Das Verwaltungsgericht könnte über die Verfassungswidrigkeit der Vorschriften zwar nicht selbst entscheiden, aber die Sache gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Mit diesem Umweg wäre aber für das verfassungsgerichtliche Verfahren nichts gewonnen. Denn es geht nicht um die – verfassungskonforme – Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzes, sondern ausschließlich um Fragen des Verfassungsrechts. Wirft ein Sachverhalt allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen auf, die letztlich das Bundesverfassungsgericht zu beantworten hat, ohne dass von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erwarten wären, ist die vorherige Nutzung fachgerichtlicher Rechtsschutzmöglichkeiten auch im Hinblick auf einen in zeitlicher und tatsächlicher Hinsicht effektiven Rechtsschutz nicht zumutbar.8 So ist es im vorliegenden Fall.
Hier kommt in zeitlicher Hinsicht hinzu, dass die Verfassungsbeschwerde sich gegen Vorschriften wendet, die den Charakter eines Maßnahmegesetzes haben. Die Geltung der Vorschriften ist auf die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Bundestag begrenzt (§ 28b Abs. 8 IfSG). Außerdem treten die Ge- und Verbote des § 28b Abs. 1 IfSG nach einem Inzidenzautomatismus in Kraft und außer Kraft. Müssten die Bf. gegen diese Ge- und Verbote zunächst den fachgerichtlichen Rechtsweg beschreiten, wäre es sehr wahrscheinlich, dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erst erreicht werden könnte, nachdem die epidemische Lage von nationaler Tragweite längst nicht mehr besteht und nachdem jedenfalls – schon wegen der zunehmenden Immunisierung der Bevölkerung – die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ge- und Verbote längst nicht mehr gegeben sind. Es ist für die Beschwerdeführer unzumutbar, ein Verfahren zu beschreiten, das keinen
7 Vgl. z.B. BVerfGE81, 70 (82f.) 97, 157 (165); 138, 261 (272 Rn. 23).
8 BVerfGE138, 261 (272 Rn. 23); 143, 246 (321 f.); 150, 309 (327).
effektiven Rechtsschutz bieten kann, sondern nur noch eine sehr verspätete rechtshistorische Klärung.
Hingewiesen sei außerdem darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die Pflicht zur Anrufung der Fachgerichte verneint, wenn dies offensichtlich sinn- und aussichtslos wäre. Dies sei der Fall, „wenn der Misserfolg eines verwaltungsgerichtlichen Rechtsbehelfs von vornherein feststeht, weil die Norm der Verwaltung keinen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum einräumt“.9
So ist es auch im vorliegenden Fall. Die Vorschriften des § 28b Abs. 1 IfSG eröffnen keinen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Ge- und Verbote, sondern diese gelten automatisch, wenn der Inzidenzschwellenwert im Sinne von § 28b Abs. 1
Satz 1 IfSG überschritten ist. Hierin unterscheidet sich die neue Regelung gerade von der alten Rechtslage. Bisher mussten die abstrakten Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes durch Rechtsverordnungen der Länder in konkrete Ge- und Verbote umgesetzt werden. Die in den Rechtsverordnungen angeordneten Maßnahmen unterlagen der Kontrolle der Verwaltungsgerichte und konnten von diesen auf ihre Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung der jeweils konkreten epidemischen Situation überprüft werden. Dies ist bei dem Inzidenzwert-Automatismus des § 28b Abs. 1 IfSG nicht mehr möglich.
Soweit die Bf. geltend machen, dadurch faktisch in ihren Grundrechten verletzt zu werden, dass ihnen durch die an Dritte gerichteten Verbote die Möglichkeit der Grundrechtsausübung genommen wird, besteht nicht einmal die theoretische Möglichkeit einer verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklage.
Hilfsweise wird außerdem geltend gemacht, dass im vorliegenden Fall jedenfalls die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erfüllt sind. Diese gelten sinngemäß auch für die Subsidiarität.10
Die Verfassungsbeschwerde ist von allgemeiner Bedeutung, weil sie die Klärung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen erwarten lässt und über den Fall der Bf. hinaus zahlreiche gleichgelagerte Fälle praktisch mitentschieden werden.11 Von den Ge- und Verboten, gegen welche die vorliegende Verfassungsbeschwerde sich wendet, sind viele Millionen Menschen betroffen. Die Entscheidung des vorliegenden Falles erspart deshalb eine große Vielzahl anderer Prozesse. Es geht auch um die Klärung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen. Einen Grundrechtseinschränkungsautomatismus, wie er in
§ 28b Abs. 1 IfSG vorgesehen ist, hat es bisher noch nicht gegeben. Die vorgesehenen Grundrechtseinschränkungen sind auch im Hinblick auf die Vielzahl der Betroffenen äußerst weitreichend. Es hat auch noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Situation gegeben, in der – wie hier – die Grundrechte aller Menschen in Deutschland in schwerwiegender Weise zur Bekämpfung von Gefahren beziehungsweise Risiken eingeschränkt werden, obwohl die allermeisten von ihnen Nichtstörer – also für
9 BVerfGE138, 261 (271 f. Rn. 23) m. Hinw. auf BVerfGE123, 148 (172).
10 Vgl. BVerfGE108, 370 (386).
11 Vgl. BVerfGE108, 370 (386) m. Hinw. auf BVerfGE19, 268 (273); 85, 167 172).
die bekämpften Gefahren oder Risiken nicht verantwortlich – sind. Dies wirft Fragen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Freiheitseinschränkungen auf, die bisher noch nicht verfassungsgerichtlich geklärt worden sind.
Zur Klarstellung sei betont: Mit dieser Verfassungsbeschwerde wird nicht die konkrete Beurteilung der epidemischen Lage durch die Bundesregierung und die Gesetzgebungsorgane im Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes angegriffen, sondern es geht allein darum, ob der Gesetzgeber mit den in § 28b Abs. 1 IfSG vorgesehenen juristischen Mitteln auf diese Lage reagieren darf. Diese Frage kann ohne Aufbereitung des Tatsachenmaterials durch die Fachgerichte vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden. Der zentrale Kritikpunkt dieser Verfassungsbeschwerde ist der Inzidenzwert-Automatismus, also die gesetzliche Anordnung der Maßnahmen ohne Beurteilung der epidemiologischen Lage und ohne Folgenabwägung in der jeweiligen Situation (dazu ausführlich unten C.III.2.a). Ob dieser Automatismus mit den Grundrechten vereinbar ist, kann ohne umfassende Aufklärung epidemiologischer und virologischer Fragen und ohne Abwägung mit zunächst noch zu ermittelnden gegenläufigen Interessen, insbesondere mit Kollateralschäden der Maßnahmen, entschieden werden. Sinn und Zweck der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist die vorherige Aufbereitung der einfachgesetzlichen Problematik und des Tatsachenmaterials durch die Fachgerichte. Für beides gibt es im vorliegenden Fall keine Notwendigkeit.
Somit ist die Verfassungsbeschwerde auch unter dem Aspekt der Subsidiarität zulässig.
IV. Frist
Das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Gesetz ist am 23.4.2021 in Kraft getreten. Die Beschwerdefrist beträgt gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG ein Jahr; sie ist somit eingehalten.
C. Begründetheit
I. Betroffene Grundrechte
1. Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG)
Die Ausgangsbeschränkung des § 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG greift in das Grundrechte auf
Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ein.
Das Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) schützt die Bewegungsfreiheit, insbesondere die Freiheit, den Ort, an dem man sich befindet, zu verlassen und jeden beliebigen anderen Ort aufzusuchen (positive Bewegungsfreiheit).12 Diese Freiheit wird durch eine Ausgangssperre beziehungsweise eine Ausgangsbeschränkung – hier durch
12 Vgl. Stephan Rixen, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 2 Rn. 228 ff.; Christoph Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 104 Rn. 17; ders., Freiheit der Person, in: HGR IV, 2011, § 93 Rn. 5 m.w.N.; Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG (Std. 14.2.2021), Art. 2
Rn. 84 m.w.N.
§ 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG aufgehoben. Wer die Wohnung nicht verlassen darf, ist an einen bestimmten Ort gebunden und darf sich nicht von diesem Ort wegbewegen. Die Pflicht, in der Wohnung zu bleiben, ist eine selbständige – nicht nur mittelbare – Pflicht zum Verbleiben an einem bestimmten Ort.13 Der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist durch die Ausgangssperre somit tangiert.14
Dies sieht auch der Gesetzgeber so, denn in § 28b Abs. 1 Abs. 9 IfSG sagt er, das Grundrecht der Freiheit der Person werde durch § 28b Abs. 1 IfSG eingeschränkt. Außer Nr. 2
– also die Ausgangssperre – ist keine Vorschrift ersichtlich, die die Freiheit der Person beschränkt. Allerdings steht die Gesetzesbegründung dazu im Widerspruch, indem sie die Ausgangsbeschränkung als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit ansieht.15 Diese Einordnung beruht auf einer fehlerhaften Gleichsetzung von Beschränkungen der Freiheit der Person mit Freiheitsentziehungen. Die Begründung formuliert nämlich: „Es handelt sich vorliegend nicht um eine Freiheitsentziehung, sondern lediglich um eine Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit zu regelmäßigen Ruhensund Schlafenszeiten, die sich als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit auswirkt.16 Richtig ist vielmehr, dass das Recht auf Freiheit der Person nicht nur gegen Freiheitsentziehungen (Inhaftierungen, Freiheitsstrafen usw.) schützt, sondern auch gegen sonstige Beschränkungen der Freiheit der Person. Dies ergibt sich eindeutig aus Art. 104 GG,17 der in Abs. 1 Satz 1 für alle Beschränkungen der Freiheit der Person allgemeine formelle Voraussetzungen aufstellt und in Abs. 2 speziell für Freiheitsentziehungen den Richtervorbehalt normiert.
„Freiheitsentziehung“ ist also nicht mit „Beschränkung der Freiheit der Person“ identisch, sondern ein engerer Spezialfall der Beschränkung der Freiheit der Person.18 Freiheitsbeschränkungen können auch kurzzeitige Beschränkungen der Fortbewegungsfreiheit sein.19
Wäre entgegen der hier vertretenen Auffassung Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht tangiert, dann wäre selbstverständlich Art. 2 Abs. 1 GG als „Auffanggrundrecht“ betroffen.
13 Zu diesem Kriterium Christoph Gusy, in: HGR IV, 2011, § 93 Rn. 10.
14 Ebenso z.B. Felix Schmitt, Die Verfassungswidrigkeit der landesweiten Ausgangsverbote, NJW
2020, S. 1626; Andrea Kießling, in: dies. (Hg.), IfSG, 2020, § 28 Rn. 33. Die Juristen, die als Sachverständige vom Gesundheitsausschuss gehört wurden und sich zu dieser Frage geäußert haben, haben einhellig ebenfalls diese Auffassung vertreten, vgl. Andrea Kießling, Stellungnahme als geladene Einzelsachverständige für die öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss, BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(6) v. 15.4.2021, S. 8; Robert Seegmüller, Stellungnahme zu dem Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache
19(14)323(16), S. 4; Christoph Möllers, Stellungnahme zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(2), S. 5; Thorsten Kingreen, Stellungnahme als ge-
ladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung
bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(19) v. 16.4.2021, S. 7; ders., BT Ausschuss f. Gesundheit, Wortprotokoll der 154 Sitzung v. 16.4.2021, Protokoll-Nr. 19/154, S. 19.
15 BT-Drs. 19/28444, S. 12.
16 BT-Drs. 19/28444, S. 12.
17 Zum Verhältnis von Art. 104 zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG Rixen, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art.
2 Rn. 228.
18 Vgl. Rixen, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 2 Rn. 229.
19 Vgl. z.B. Lang, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG (Std. 14.2.2021), Art. 2 Rn. 87a.
2. Recht auf Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG)
Das Grundrecht auf Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) ist durch die Kontaktbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG in seinem Schutzbereich betroffen.
Die Kontaktbeschränkungen gemäß Nr. 1 erstrecken sich auch auf Familienangehörige. Sie bewirken insbesondere, dass Eltern die Familien ihrer Kinder nicht gemeinsam besuchen dürfen. Großeltern dürfen ihre Enkel nur einzeln und nicht gemeinsam besuchen. Umgekehrt dürfen die Enkel gemeinsam die Großeltern besuchen, auch in Begleitung eines Elternteils, aber nicht in Begleitung beider Eltern. Dies erschwert familiäre Kontakte erheblich.
3. Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)
Der Bf. zu 1. macht auch die Verletzung seiner Berufsfreiheit geltend, und zwar durch die nächtliche Ausgangssperre (§ 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG). Diese Vorschrift sieht zwar eine Ausnahme vor für Aufenthalte, die der Berufsausübung dienen (lit. b). Jedoch muss der Bf. sich rechtfertigen, wenn er sich zwischen 22.00 und 5.00 Uhr außerhalb einer Wohnung aufhält. Aus beruflichen Gründen ist er hierzu häufig gezwungen, wie oben (B.I.1.) darlegt. Diese Rechtfertigungspflicht für die Freiheitsausübung kehrt das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip um und erschwert die Ausübung der in Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Freiheit.
4. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)
Die Verpflichtung zum Tragen einer FFP2-Maske oder vergleichbaren Maske im öffentlichen Personennahund Fernverkehr greift nicht nur in die freie Entscheidung zum Tragen oder Nichttragen einer Maske, also in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs.
1 GG), sondern darüber hinaus in das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs.
2 Satz 1 GG) ein. Denn eine FFP2-Maske behindert den freien Fluss der Atemluft und führt noch viel stärker als Alltagsmasken oder medizinische Masken zur Rückatmung von CO2. Dies kann bei länger andauerndem Tragen einer FFP2-Maske gesundheitsschädlich sein. Deshalb sehen die einschlägigen Arbeitsschutzvorschriften vor, dass Arbeitnehmer, die solche Masken während der Arbeit tragen müssen, regelmäßige Pausen einlegen müssen, in denen sie die Maske ablegen dürfen. Zumindest für Reisende im Fernverkehr, die mehrere Stunden ununterbrochen die Maske tragen müssen, ist Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG somit berührt.
5. Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG)
Freizügigkeit ist das Recht, innerhalb der Bundesrepublik Deutschland nicht nur seinen
Wohnsitz, sondern auch den Ort seines Aufenthalts frei zu bestimmen und sich an den
gewünschten Aufenthaltsort zu begeben. Dieses Recht wird durch das Beherbergungsverbot (§ 28b Abs. 1 Nr. 10) IfSG sehr weitgehend eingeschränkt.
6. Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)
Jedes Gebot oder Verbot und jede faktische Freiheitseinschränkung berührt zumindest den Schutzbereich des Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Dieses Grundrecht ist einschlägig, sofern die Freiheitseinschränkung nicht ein Spezialgrundrecht betrifft.
Dies trifft für alle Ge- und Verbote des § 28b Abs. 1 IfSG zu, sofern nicht bereits dargelegt wurde, dass spezielle Freiheitsrechte berührt sind.
Die Öffnungsund Veranstaltungsverbote (Nr. 3-5, 7) und das Beherbergungsverbot (Nr.
10) berühren den Schutzbereich der Berufsfreiheit der Adressaten dieser Verbote, die Verbote gemäß Nr. 5, soweit sie künstlerische Veranstaltungen verhindern, auch die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG). Die Bf. sind insoweit nicht betroffen, weil sie die Verletzung dieser Grundrechte unter dem Aspekt der Unmöglichmachung der Nutzung von Einrichtungen, Betrieben und Veranstaltungen, deren Öffnung verboten ist, geltend machen. Für die Bf. ist auch hinsichtlich dieser Verbote nur die allgemeine Handlungsfreiheit tangiert.
Soweit oben dargelegt wurde, dass durch § 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG das Recht auf Ehe und
Familie berührt ist, bleibt die Betroffenheit der allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs.
1 GG) unberührt. Denn die Vorschrift schränkt ja nicht nur Zusammenkünfte mit Familienangehörigen ein. In ihrem sonstigen Anwendungsbereich ist Art. 2 Abs. 1 GG einschlägig.
Somit sind die Bf. durch sämtliche Ge- und Verbote des § 28b Abs. 1 IfSG in ihrem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit betroffen. Nur die Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG berühren ausschließlich eine spezialgrundrechtlich geschützte Freiheit, nämlich die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG). Falls man allerdings die Auffassung verträte, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sei nicht einschlägig, käme stattdessen Art. 2 Abs. 1 GG zur Anwendung.
II. Grundrechtseingriffe
Sämtliche Ge- und Verbote des § 28b Abs. 1 IfSG greifen in die Grundrechte der Bf. ein. Jedes Gebot und jedes Verbot ist ein Grundrechtseingriff im klassischen Sinne. Soweit die Ge- und Verbote an jedermann und somit auch an die Bf. adressiert sind (Nr. 1, 2, 6,
8, 9), liegen klassische Eingriffe in die Grundrechte der Bf. vor.
Soweit die Bf. sich gegen die Öffnungsund Beherbergungsverbote (Nr. 3-5, 7, 10) wenden, ohne Adressaten der Verbote zu sein, liegen Grundrechtseingriffe im Sinne des „modernen“ Eingriffsbegriffs vor. Ein Eingriff liegt nach heutigem Verständnis immer dann vor, wenn der Einzelne an einem Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, durch den Staat gehindert wird. Es kommt nicht darauf an, ob die
Freiheitsbeeinträchtigung final, imperativ und unmittelbar erfolgt.20 Abgesehen hiervon zielen im vorliegenden Fall die Öffnungsund Beherbergungsverbote darauf ab, dass die Einrichtungen, Geschäfte, Gaststätten, Hotels usw., an welche die Verbote adressiert sind, von den Menschen nicht benutzt werden können. Die Schließung der Einrichtungen ist lediglich das Mittel, mit dem erreicht werden soll, dass die Menschen diese Einrichtungen nicht aufsuchen und dabei in Kontakt mit anderen Menschen kommen. Die Verbote dienen somit final der Freiheitsbeschränkung aller Menschen. Daher kann auch insoweit an ihrem Eingriffscharakter kein Zweifel bestehen.
Es gibt zwar Entscheidungen des Ersten Senats, in denen dieser zwischen Eingriffen und sonstigen Grundrechtsbeeinträchtigungen unterschieden hat. Jedoch hat der Senat klargestellt, dass auch sonstige Grundrechtsbeeinträchtigung am Maßstab der Grundrechte zu messen seien.21 Der Unterschied zwischen Grundrechtseingriffen im engeren Sinne und Grundrechtsbeeinträchtigungen im Sinne dieser Terminologie besteht lediglich darin, dass nur für Eingriffe im engeren Sinne eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage verlangt wird.22 Daher ist diese Unterscheidung im vorliegenden Fall, in dem es nicht um die Beurteilung exekutiver Maßnahmen, sondern um die Beurteilung eines Gesetzes geht, irrelevant.
§ 28b Abs. 1 IfSG verletzt daher die Grundrechte der Bf., sofern sich die Eingriffe beziehungsweise Beeinträchtigungen nicht rechtfertigen lassen.
III. Fehlende Eingriffsrechtfertigung
Die Grundrechtseinschränkungen sind gerechtfertigt und verfassungsmäßig, sofern das Gesetz formell und materiell in jeder Hinsicht verfassungsmäßig ist und insbesondere die im Grundgesetz vorgesehenen Eingriffsvoraussetzungen erfüllt, nämlich die Anforderungen der speziellen Gesetzesvorbehalte und des Verhältnismäßigkeitsprinzips.
1. Formelle Verfassungsmäßigkeit
Das Gesetz ist formell verfassungsmäßig.
2. Materielle Verfassungswidrigkeit
a) Fehlende Eingriffsrechtfertigung wegen des Inzidenzwert-Automatismus
Der neue § 28b Abs. 1 IfSG soll eine „Bundes-Notbremse“ zur Pandemiebekämpfung schaffen, indem verschärfte Lockdown-Maßnahmen automatisch bei Überschreitung des Schwellenwertes von 100 für die Sieben-Tage-Inzidenz ausgelöst werden. Der Paragraph ist „self-executing“: Seine Gebote und Verbote werden ohne Vollzugsakt automatisch in Geltung gesetzt, wenn der Inzidenzwert 100 an drei aufeinander folgenden Tagen
20 Vgl. z.B. Dietrich Murswiek, Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriffe. Zur Wirtschaftsund Meinungslenkung durch staatliches Informationshandeln, in: DVBl. 1997, S. 1021 (1025); Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 34. Aufl. 2018, Rn. 264.
21 BVerfGE105, 279 (299 ff.) – Osho.
22 Vgl. BVerfGE105, 279 (303 f.) – Osho.
überschritten worden ist (§ 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG). Weitreichende Freiheitseinschränkungen für Tausende Menschen – insgesamt können sogar über 80 Millionen Menschen betroffen sein – werden also durch einen Automatismus ausgelöst, ohne dass in der konkreten Situation von einer dafür zuständigen staatlichen Stelle überprüft wird, ob diese Freiheitseinschränkungen in dem jeweiligen Landkreis und unter den dort gegebenen konkreten Umständen überhaupt erforderlich und angemessen sind. Ein solcher Regelungsansatz ist einmalig in der Geschichte des Gefahrenabwehrrechts23 und bringt eine zentrale Säule des rechtsstaatlichen Freiheitsschutzes zum Einsturz – jedenfalls auf dem Gebiet des Infektionsschutzrechts. Aber wenn so etwas einmal unbeanstandet durchkommt, könnte es Schule machen. Insofern treibt der neue Regelungsansatz die „Erosion des Rechtsstaats“ (Hans-Jürgen Papier)24 voran.
Was ist das Besondere an dem Inzidenzwert-Automatismus und warum ist er mit dem Rechtsstaatsprinzip und den rechtsstaatlichen, grundrechtlich verbürgten Freiheitssicherungen unvereinbar? Dies will ich im folgenden beantworten. Dabei gehe ich zuerst auf die strukturelle Unvereinbarkeit des Automatismus mit dem gewaltenteilenden Freiheitssicherungsund Rechtsschutzsystem ein (aa), bevor ich darlege, warum der Automatismus dazu führt, dass die Voraussetzungen der Freiheitseinschränkungen nicht vollständig und nicht hinreichend bestimmt im Gesetz festgelegt sind (bb) und dass er zu unverhältnismäßigen Freiheitseinschränkungen führen muss (cc).
aa) Unvereinbarkeit mit dem rechtsstaatlichen System der Freiheitssicherung durch Gewaltenteilung und das rechtsstaatliche Rechtsschutzsystem
(1) Unvereinbarkeit mit der Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug
Der Rechtsstaat schützt die Freiheit durch ein System organisatorischer Vorkehrungen (Gewaltenteilung, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes), durch die grundrechtlichen Freiheitsgarantien und durch die Verbürgung effektiven Rechtsschutzes durch unabhängige Gerichte.
Ein wesentlicher Baustein des Systems rechtsstaatlichen Freiheitsschutzes ist die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug, verbunden mit der Zuständigkeit unterschiedlicher Staatsorgane für Gesetzgebung und Vollziehung. Das pflichtenbegründende Gesetz muss prinzipiell abstrakt und generell sein. Das ist ein wesentliches Element der Sicherung von Gerechtigkeit und Ausschluss von Willkür. Der Vollzug des Gesetzes muss auf die besonderen Umstände des Einzelfalls und der konkreten Situation Rücksicht nehmen. Die situationsbezogen richtige Anwendung des Gesetzes kann der Gesetzgeber im voraus gar nicht abstrakt-generell gewährleisten, sondern sie erfordert die situative Beurteilung des Einzelfalls durch eine Verwaltungsbehörde, die vor Ort die
23 So auch Christoph Möllers, Stellungnahme zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(2), S. 1; ders., BT Ausschuss f. Gesundheit, Wortprotokoll der 154 Sitzung v. 16.4.2021, Protokoll-Nr. 19/154, S. 14: „Tatsächlich gibt es kein Beispiel für eine so flächendeckende nicht vollzugsbedürftige Form von grundrechtsintensiven Eingriffen wie dieses Gesetz.“
24 Süddeutsche Zeitung vom 2.4.2020, S. 2 („Dann hat der liberale Rechtsstaat abgedankt“, Interview).
Besonderheiten des Falles ermitteln und beurteilen kann. An die Stelle einer im Einzelfall das Gesetz vollziehenden Behörde kann auch eine Landesregierung oder sogar die Bundesregierung treten, wenn es einer für viele Adressaten geltenden Vollzugsregelung durch Rechtsverordnung bedarf, wobei die Rechtsverordnung in den meisten Fällen wiederum durch Behörden im Einzelfall vollzogen wird.
Der freiheitsschützende Charakter der Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug besteht somit vor allem darin, dass die durch sie eröffnete Möglichkeit der Berücksichtigung der konkreten Einzelfallumstände beziehungsweise der konkreten zu regelnden Lage dazu beiträgt, übermäßige Freiheitseinschränkungen zu vermeiden.
Mit dem Grundsatz der Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug und somit von Legislative und Exekutive ist § 28b Abs. 1 IfSG nicht vereinbar. Da diese Vorschrift selfexecuting ist, sich also selbst vollzieht, fungiert der Gesetzgeber hier zugleich als Exekutivorgan. Der Gesetzgeber entscheidet selbst über die Vollziehung des Gesetzes, indem er in das Gesetz einen Vollzugsautomatismus einbaut. Die Entscheidung, die im gewaltenteilenden Rechtsstaat von dem für den Gesetzesvollzug zuständigen Exekutivorgan vorzunehmen wäre, hat der Gesetzgeber selbst programmiert, und sie wird dann durch den Inzidenzwert-Automatismus ausgelöst.
Das Gesetz ist daher ein mit dem Rechtsstaatsprinzip prinzipiell unvereinbares Maßnahmegesetz. Es betrifft zwar nicht nur eine Person oder einen Einzelfall (wie bei einer Legislativenteignung), sondern es betrifft eine unbestimmte Vielzahl von Menschen; es enthält eine generelle Regelung. 25 Aber es ist auf eine bestimmte konkrete Lage zugeschnitten, nämlich auf das, was als die durch SARS-CoV-2 ausgelöste „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ bezeichnet wird; und es beschränkt sich nicht darauf, auf diese Lage bezogene abstrakt-generelle Regeln zu erlassen, die dann bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen die Exekutive zu Freiheitseinschränkungen ermächtigen und gegebenenfalls auch verpflichten, sondern es legt selbst fest, welche Beschränkungen der Freiheit durch den Inzidenzwert-Automatismus ausgelöst werden. Damit usurpiert der Gesetzgeber eine Funktion, die im rechtsstaatlichen Gewaltenteilungssystem der Exekutive zusteht. Thorsten Kingreenspricht zutreffend von einem „Formenmissbrauch“, nämlich Missbrauch der Gesetzesform zum Erlass „ihrer Natur nach exekutive(r) Maßnahmen der Gefahrenabwehr“. 26
So wird es der Exekutive unmöglich gemacht, ihre ureigenste verfassungsrechtliche Aufgabe wahrzunehmen und im konkreten Fall zu prüfen, ob bei Überschreitung des Inzidenz-Schwellenwerts örtlich zur Erreichung des Gesetzeszwecks die im Gesetz vorgesehenen verschärften Lockdown-Maßnahmen überhaupt erforderlich sind [dazu näher unten (cc), insbesondere (cc) (2)]. Auf diese Weise geht eine zentrale rechtsstaatliche Freiheitssicherungsfunktion verloren.
25 Christoph Möllershat daher von einem „Maßnahmegesetz mit allgemeiner Geltung“ gesprochen, Stellungnahme zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache
19(14)323(2), S. 1.
26 Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum
Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(19) v. 16.4.2021, S. 3.
Dieser fundamentale Mangel ist nicht etwa dadurch behoben worden, dass der Gesundheitsausschuss noch eine Bekanntmachungsvorschrift in den Absatz 1 (vorletzter Satz) eingefügt hat: „Die nach Landesrecht zuständige Behörde macht in geeigneter Weise die Tage bekannt, ab dem die jeweiligen Maßnahmen nach Satz 1 in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt gelten.“ Diese Norm soll lediglich dem rechtsstaatlichen Publizitätsgebot Rechnung tragen und für Rechtssicherheit bezüglich des jeweils geltenden Rechts sorgen. Sie gibt der zuständigen Behörde keine Prüfungsund Entscheidungszuständigkeit, sondern die Behörde ist verpflichtet, die Veröffentlichung vorzunehmen, wenn das Schwellenwert-Kriterium des Satzes 1 erfüllt ist. Einen Beurteilungsoder Ermessensspielraum gibt das Gesetz der Behörde nicht.
(2) Unvereinbarkeit mit der Garantie gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) Die Aufhebung der Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug durch den automa-
tischen Selbstvollzug des Gesetzes führt dazu, dass der fachgerichtliche Rechtsschutz verlorengeht.27 Während gegen Vollzugsmaßnahmen durch Verwaltungsbehörden oder beim Gesetzesvollzug durch Rechtsverordnungen Rechtsschutz bei den Verwaltungsgerichten gegeben ist, ist fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen Parlamentsgesetz nicht möglich.
Gegen das Wirksamwerden der „Notbremse“, also der in § 28b Abs. 1 IfSG normierten Verbote und Gebote, bei Überschreiten des Schwellenwertes gibt es keinen Rechtsschutz. Damit verstößt § 28b Abs. 1 IfSG gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.
Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass gegen Parlamentsgesetze generell kein fachgerichtlicher Rechtsschutz bestehe und als einziger Rechtsbehelf die Verfassungsbeschwerde gegeben sei, und dass Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG nur gegen die Exekutive, nach neuerer Rechtsprechung auch gegen die Rechtsprechung, nicht aber gegen die Gesetzgebung garantiert sei.28 Denn es geht hier gerade darum, dass der Gesetzgeber eine materielle Verwaltungsentscheidung formell in ein Gesetz verpackt und auf diese Weise dem fachgerichtlichen Rechtsschutz entzogen hat. Statt durch die Verwaltung, die auf Stadtoder Landkreisebene die Corona-Maßnahmen zuvor durch Allgemeinverfügungen geregelt hat, werden sie jetzt durch den gesetzlichen Inzidenzwert-Automatismus ausgelöst.
Hierauf ist Art. 19 Abs. 4 GG als Maßstab anwendbar. Es wird hier nicht geltend gemacht, dass gegen das Gesetz der Rechtsweg zu den Fachgerichten eröffnet sein müsse, sondern es wird geltend gemacht, dass der Gesetzgeber gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstößt, indem er durch Einbeziehung von Verwaltungsentscheidungen in das Gesetz materielle Verwaltungsentscheidungen dem fachgerichtlichen Rechtsschutz entzieht.
Wäre dies kein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG, dann könnte der Gesetzgeber künftig die Verantwortlichkeit der Verwaltung und damit auch den fachgerichtlichen
27 Das ist völlig unstreitig, vgl. z.B.
28 Zum Stand der Diskussion vgl. die Kommentierung von Michael Sachs, in: ders., GG, 9. Aufl.
2021, Art. 19 Rn. 118 ff.
Rechtsschutz damit aushebeln, dass er für bestimmte Verwaltungsentscheidungen Algorithmen programmieren lässt, deren Ergebnisse dann Gebote und Verbote triggern.
Der individuelle Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG kann im vorliegenden Fall auch nicht dadurch ersetzt werden, dass gegen das Gesetz ja die Verfassungsbeschwerde möglich ist. Denn im Rahmen der Verfassungsbeschwerde kann nur das Gesetz als solches auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch nicht prüfen, ob im konkreten Fall, in dem in einem Stadtoder Landkreis der Inzidenzwert-Automatismus des § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG ausgelöst wird, die dann automatisch geltenden Maßnahmen der Nr. 1-10 dieser Vorschrift im Hinblick auf die situationsbezogenen Umstände verhältnismäßig und somit verfassungsmäßig sind. Dies ist nicht Gegenstand dieser Verfassungsbeschwerde und dies kann auch gar nicht zulässiger Gegenstand irgendeiner anderen Verfassungsbeschwerde sein. In bezug auf diese Frage gibt es keinen Rechtsschutz bei den Fachgerichten und auch keinen Rechtsschutz beim Bundesverfassungsgericht. Weil das so ist, kann das Gesetz nicht verfassungsmäßig sein, sondern muss die vorliegende Verfassungsbeschwerde Erfolg haben.
Im Falle einer Legislativenteignung – also eines typischen Maßnahmegesetzes – hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass sie nur zulässig sei, wenn die Administrativenteignung „mit erheblichen Nachteilen für das Gemeinwohl verbunden wäre, denen nur durch eine gesetzliche Regelung begegnet werden kann“,29 obwohl ja das Grundgesetz eine Legalenteignung gemäß Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG ausdrücklich zulässt. Das Bundesverfassungsgericht hat dies mit der Schmälerung des Rechtsschutzes durch Legalenteignungen begründet. Für andere gesetzlich geregelte Administrativmaßnahmen muss Entsprechenden gelten.
Eine Notwendigkeit, aus Gemeinwohlgründen einen Automatismus einzuführen, der die rechtsstaatliche Gewaltenteilung aushebelt und den fachgerichtlichen Rechtsschutz ausschaltet, ist für die „Bundes-Notbremse“ nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber hätte auch regeln können, dass unter den Voraussetzung des § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG die zuständigen Behörden verpflichtet sind, entsprechende Allgemeinverfügungen zu erlassen beziehungsweise dass die Länder bei landesweiter Erfüllung der Voraussetzung landesweit geltende Rechtsverordnungen erlassen müssen. Dann wäre das Ziel des Gesetzes erreicht, ohne den fachgerichtlichen Rechtsschutz zu beseitigen.30
(bb) Anknüpfung an die Sieben-Tage-Inzidenz legt die Voraussetzungen der Freiheitseinschränkungen nicht vollständig und nicht hinreichend bestimmt fest
Grundrechtseinschränkungen sind nur verfassungsmäßig, wenn ihre Voraussetzungen im Gesetz – hinreichend bestimmt – festgelegt sind. Dies ist bei § 28b Abs. 1 IfSG nicht der Fall.
29 BVerfGE95, 1 (22) m. Hinw. auf BVerfGE24, 367 (398 ff.); 45, 297 (331, 333).
30 Vgl. Thorsten Kingreen, Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines
Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(19) v. 16.4.2021, S. 5 f.
Das § 28b Abs. 1 IfSG macht die dort vorgesehenen Freiheitseinschränkungen davon abhängig, dass der Inzidenz-Schwellenwert 100 überschritten wird. Es scheint auf den ersten Blick so, als seien damit die Voraussetzungen für die Freiheitseinschränkungen völlig klar und eindeutig festgelegt worden. Dieser Schein trügt.
Zwar ist es möglich, unter die Kriterien des § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG klar zu subsumieren. Satz 1 verwendet Begriffe ohne allzu große Unschärfen. Da es auf die vom RKI veröffentlichten Zahlen ankommt, lässt sich die Überschreitung des Schwellenwerts eindeutig feststellen. Unter diesem Aspekt ist die Vorschrift hinreichend bestimmt gefasst.
Aber der vom Gesetz verwendete Begriff der Inzidenz, an den die Rechtsfolge der in Nr.
1-10 normierten Freiheitseinschränkungen anknüpft, eröffnet der Exekutive die Möglichkeit, die Voraussetzungen der Freiheitseingriffe selbst zu bestimmen.
Der gesetzliche Inzidenzbegriff bezeichnet nämlich nicht eine Tatsache, die sich empirisch (medizinisch/statistisch) eindeutig bestimmen lässt. Vielmehr eröffnet dieser Begriff dem RKI beziehungsweise der Bundesregierung die Möglichkeit, zur Verwirklichung ihrer eigenen politischen Intentionen für höhere oder niedrigere Inzidenzwerte zu sorgen. Dazu gibt es vor allem zwei Stellschrauben:
Erhöhung oder Verringerung der Zahl der PCR-Tests. Je höher die Zahl des Tests, desto höher der Inzidenzwert und umgekehrt [dazu näher unten C.III.2.a) cc) (1.1)].
Bestimmung des Ct-Wertes, bis zu welchem ein PCR-Test als positiv gilt. Dieser Wert (Cycle-threshold-Wert) bezeichnet die Vervielfältigungszyklen der Polymerase-Kettenreaktion im Labor, die gemacht werden, bis ein Gensegment des Virus gefunden wird. Je höher die Zahl, desto geringer die Viruslast.31 Bei einem hohen CtWert kann eine Infektiosität als ausgeschlossen angesehen werden. Das RKI könnte deshalb die Labors anweisen, nur Tests mit einem Ct-Wert unterhalb einer bestimmten Schwelle als positiv zu melden. Dadurch würde die Zahl der gemeldeten „Fälle“ und damit die Inzidenz sich mehr oder weniger drastisch verändern.
Möglicherweise hängt die Zahl der gefundenen „Neuinfektionen“ auch von der Art des im Labor verwendeten PCR-Tests ab. Manche Tests suchen nach zwei oder drei RNA-Segmenten des Virus, manche nur nach einem. Es wird berichtet, dass in letzterem Fall die Zahl der positiven Ergebnisse sehr viel höher sei. Dies soll hier aber nicht vertieft werden. Wenn dies zutreffen sollte, hätte das RKI die Möglichkeit, durch Anweisung, welcher Test zu verwenden ist, die Inzidenz zu beeinflussen.
Es kommt verfassungsrechtlich nicht darauf an, ob die Exekutive von der Möglichkeit, an diesen Stellschrauben mit dem Ziel der Beeinflussung der Inzidenz drehen wird. Entscheidend ist, dass die Möglichkeit hierzu besteht. Zumindest die erste Möglichkeit – Steuerung der Zahl der Tests – ist im übrigen eine sehr nahliegende Möglichkeit der Steuerung der Inzidenzwerte, zumal die Politik während der Pandemie die Testprogramme mehrfach geändert und damit indirekt die Entwicklung der Inzidenzwert beeinflusst hat [siehe auch unten C.III.2.a) cc) (1.1)].
31 Vgl. z.B. Ct-Wert als Maß für die Infektiosität, DAZ.online 22.10.2020, https://www.deutscheapotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/10/22/ct-wert-als-mass-fuer-die-infektiositaet/chapter:2.
Mit Hilfe des Inzidenzbegriffs kann also die Exekutive die Voraussetzungen steuern, unter denen als Rechtsfolge die Freiheitseinschränkungen eintreten. Dies ist verfassungswidrig und verletzt die betroffenen Grundrechte.
Der Gesetzgeber hätte, um dies zu vermeiden, die die Inzidenz beeinflussenden Faktoren selbst normieren müssen. Er hätte also bestimmen müssen, welches der für einen positiven Test maßgebliche Ct-Wert ist. Und er hätte klare Kriterien für die Tests regeln oder zumindest in die Bestimmung der Inzidenz eine Variable einbauen müssen, die das Ergebnis auf die Zahl der Tests bezieht. Während die gegenwärtige Praxis den Inzidenzwert einfach aus der Zahl der meldeten Fälle (d.h. aus der Zahl der positiven PCR-Tests) pro
100.000 Einwohner berechnet, hätte der Gesetzgeber bestimmen können, dass die Inzidenz aus der Quote positiver PCR-Tests pro durchgeführter Tests pro 100.000 Einwohner zu berechnen ist.32
(cc) Unverhältnismäßigkeit der Freiheitseinschränkungen wegen des Inzidenzwert-Automatismus
Das Gesetz ordnet in § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG an, dass die als „Notbremse“ vorgesehenen weitreichenden Freiheitseinschränkungen, die in Absatz 1 Nr. 1-10 normiert sind, automatisch ab dem übernächsten Tag gelten, wenn an drei aufeinanderfolgenden Tagen der Schwellenwert überschritten wurde. Das Außerkrafttreten der Maßnahmen des Absatzes
1 setzt nach Absatz 2 das Unterschreiten des Schwellenwertes an fünf aufeinanderfolgenden Werktagen voraus. Damit hängt die Geltung der Freiheitseinschränkungen allein von der Entwicklung der Inzidenzwerte ab.
Diese Steuerung der Corona-Maßnahmen allein anhand der Inzidenzwerte ist mit dem
Verhältnismäßigkeitsprinzip unvereinbar und daher verfassungswidrig.
Jede Freiheitseinschränkung setzt nämlich voraus, dass sie zur Verwirklichung eines legitimen Gemeinwohlziels geeignet, erforderlich und im engeren Sinne verhältnismäßig ist. Dass diese drei Kriterien des Verhältnismäßigkeitsprinzips immer dann erfüllt sind, wenn das Inzidenzkriterium des § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllt ist, lässt sich nicht begründen. Vielmehr sind – insbesondere lokale und regionale – Umstände denkbar, unter denen eine Verschärfung der ohnehin schon von den Ländern ergriffenen Corona-Maßnahmen im Sinne der Bundes-„Notbremse“ nicht erforderlich sind, um das vom Gesetzgeber angestrebte Gemeinwohlziel zu erreichen, oder dass sie zur Verwirklichung dieses Ziels nur so wenig beitragen, dass sie nicht im engeren Sinne verhältnismäßig sind. Dies wird im folgenden (2), (3) näher dargelegt. Zuvor werde ich zeigen, dass die Inzidenzwerte als solche zur Einschätzung der Corona-Risiken allenfalls in Zusammenschau mit weiteren Kriterien geeignet sind und sich deshalb nicht als alleiniges Steuerungsinstrument für eine rationale und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechende Gefahrenabwehr eignen (1).
32 Natürlich müsste dann der Schwellenwert entsprechend anders festgelegt werden.
(1) Ungeeignetheit der Inzidenzwerte zur Beurteilung der Corona-Risiken
Die Inzidenzwerte zeigen nicht die wirkliche Inzidenz im infektionsmedizinischen Sinne dieses Fachbegriffes an und können ein irreführendes Bild von der epidemischen Lage vermitteln (1.1). Außerdem sagen sie für sich gesehen nichts Definitives über die Gefährlichkeit des Infektionsgeschehens aus (1.2).
(1.1) Irreführung durch Inzidenzwerte
Das Robert Koch-Institut (RKI) ermittelt die sogenannte Inzidenz anhand der von den Gesundheitsämtern gemeldeten positiven PCR-Tests. Das sind die „laborbestätigten Fälle“, die das RKI täglich mitteilt.33 Dies entspricht dem Kriterium, mit dem nach § 28a Abs. 3 IfSG die dort genannten Schwellenwerte zu ermitteln sind: Es kommt auf die Zahl der „Neuinfektionen“ an, und darunter verstehen die Staatspraxis und das RKI die an das RKI gemeldeten laborbestätigten Fälle. Die wirkliche Inzidenz, nämlich die Zahl der Neuerkrankten innerhalb der Bevölkerung, könnte man nur durch repräsentative Tests abschätzen. Solche Tests werden aber in Deutschland nicht durchgeführt. Das RKI stützt sich auf Zahlen, die von nichtrepräsentativen Umständen abhängen. Wenn beispielsweise Reiserückkehrer aus Risikoländern bei ihrer Rückkehr getestet werden, findet man dort mehr positive Ergebnisse als im Durchschnitt der Bevölkerung. Die Testverpflichtung für Reiserückkehrer führt daher zur Erhöhung der Inzidenz. Auch wenn vornehmlich Menschen mit Covid-19-Symptomen getestet werden, ist das Ergebnis für die auf die Bevölkerung bezogene Fallzahl, die das RKI Inzidenz nennt, ganz anders, als würde man Zufallsstichproben testen. Wenn jetzt massenhaft Schnelltests durchgeführt werden und alle im Schnelltest positiv Getesteten verpflichtet sind, einen PCR-Test zu machen, führt das dazu, dass die Quote der positiv Getesteten und auch die Gesamtzahl der positiv Getesteten bei den PCR-Tests ansteigen, somit mehr neue Fälle an das RKI gemeldet werden und daher die Inzidenz im Sinne des RKI steigt.
Die vom RKI ermittelte Inzidenz ist also sehr stark abhängig von der jeweils verfolgten Teststrategie beziehungsweise von den Rahmenbedingungen, z.B. der Einführung verpflichtender Schnelltests oder der Möglichkeit, durch negative Schnelltests Zugang zu Einrichtungen oder Veranstaltungen zu finden.
Insgesamt hängt die Zahl der dem RKI gemeldeten neuen Fälle und damit die Entwicklung der Inzidenz im Sinne des RKI von der Zahl der PCR-Tests ab. Je mehr PCR-Tests durchgeführt werden, desto mehr positive Ergebnisse in absoluten Zahlen und auch in Relation zur Bevölkerung (Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner) wird man finden. Würde man umgekehrt wesentlich weniger testen, sänke automatisch die vom RKI
33 Vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Ge- samt.html.
ermittelte Inzidenz.34 Deshalb wird die maßgebliche Steuerung der Pandemiebekämpfung durch Inzidenzwerte von Epidemiologen schon lange kritisiert.35
Dennoch könnten die Inzidenzwerte jedenfalls einen einigermaßen brauchbaren Anhaltspunkt für die Entwicklung des Infektionsgeschehens liefern, wenn die Testparameter über die Zeit gleich blieben. Dann wüssten wir zwar immer noch nicht, wieviele Infizierte es in Deutschland oder in einem Landkreis tatsächlich gibt, aber die Aufwärtsoder Abwärtsdynamik der Infektionsentwicklung ließe sich doch abschätzen. Das ist bei ständig wechselnden Testkonstellationen und vor allem Testzahlen nur möglich, wenn man in die Berechnungen auch auf die wechselnden Testumstände abstellt. Insbesondere könnte bei steigenden Testzahlen tendenziell nur dann ein Ansteigen der Inzidenz angenommen werden, wenn der Anstieg der laborbestätigten Fälle den Anstieg der Tests übersteigt. Diese Umstände werden aber vom RKI in die Ermittlung der Inzidenz nicht einbezogen.
(1.2) Nur bedingte Aussagekraft der Inzidenzwerte für die Gefährlichkeit der epidemischen Lage
Wie gesagt beruhen die Inzidenzwerte auf der Anzahl der dem RKI gemeldeten laborbestätigten Fälle, d.h. der Anzahl der positiven PCR-Tests.
Wie gefährlich das Infektionsgeschehen ist, hängt aber von einer Reihe von Umständen ab, die durch die Inzidenzwerte nicht widergespiegelt werden. Die Gefahr, die mit dem Gesetz bekämpft werden soll, ist die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems, d.h. der Intensivstationen.36 Allein die Zahl der dem RKI gemeldeten Fälle sagt nichts über die Gefährlichkeit der Lage aus. Das ergibt sich insbesondere aus folgenden Umständen:
Ein positiver PCR-Test bedeutet nicht, dass die betreffende Person infektiös ist, also andere Menschen anstecken kann. Bei der Risikobeurteilung muss berücksichtigt werden, dass nur schätzungsweise die Hälfte der positiv getesteten Personen infektiös ist.37 Welche Menschen das sind, ließe sich anhand der Ct-Werte einigermaßen
34 Vgl. Dietrich Murswiek, Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, NVwZ-Extra 5/2021, S. 1 (2 f., 9), https://rsw.beck.de/rsw/upload/NVwZ/Extra_5-2021.pdf.
35 Vgl. z.B. Schrappeu.a., Thesenpapier 6, Teil 6.1: Epidemiologie. Die Pandemie durch SARSCoV-2/CoViD-19. Zur Notwendigkeit eines Strategiewechsels, 22.11.2020, S. 15 ff.,
http://www.matthias.schrappe.com/index_htm_fi-les/Thesenpap6_201122_endfass.pdf (abgerufen
am 29.12.2020). Zuletzt forderten der Vorgänger Drostens als Chefvirologe der Charité, Prof. Dr. Detlev H. Krüger, und der ehemalige Leiter des Globalen Influenzaund Pandemievorbereitungsprogramms der WHO, Prof. Dr. Klaus Stöhr, in einem Offenen Brief an den Bundestag, davon abzusehen, die 7-Tages-Inzidenz als alleinige Bemessungsgrundlage für antipandemische Schutzmaßnahmen zu definieren, vgl. dazu den Artikel „Ehemaliger Charité-Chefvirologe fordert Umdenken der Bundesregierung, Welt 14.4.2021 mit Abdruck des Offenen Briefes, https://www.welt.de/politik/deutschland/plus230263299/Ex-Charite-Chefvirologe-Offener-Brief- an-Bundesregierung.html?cid=onsite.onsitesearch (abgerufen am 19.4.2021).
36 Gesetzentwurf BT-Drs. 19/28444, S. 1, 8.
37 So Olfert Landt, dessen Unternehmen PCR-Tests herstellt, Fuldaer Zeitung, 3.1.2021, https://www.fuldaerzeitung.de/fulda/corona-pcr-test-hersteller-mut-rki-robert-koch-institut-tib-
molbiol-olfert-landt-berlin-90132220.html (abgerufen am 3.1.2021).
verlässlich abschätzen.38 Diese spielen aber für die deutsche Corona-Politik bisher keine Rolle.
Ein PCR-Test kann sogar noch Wochen, nachdem die Infektion schon abgeklungen und keine Infektiosität mehr gegeben ist (wenn sie jemals gegeben war), bei einem hohen Ct-Wert positiv sein. Auch deshalb ist es grob irreführend, jeden positiven PCR-Test als „Neuinfektion“ zu bezeichnen.39
Ein positiver PCR-Test bedeutet nicht, dass die betreffende Person an Covid-19 erkrankt ist. Ein sehr großer Anteil der Menschen, deren Schleimhaut mit SARS-CoV-
2 in Berührung gekommen ist, wehrt mit dem eigenen Immunsystem die Infektion ab, ohne zu erkranken.
Ein positiver PCR-Test bedeutet erst recht nicht, dass die betreffende Person einen schweren Krankheitsverlauf entwickeln und hospitalisierungsbedürftig oder gar intensivbehandlungsbedürftig sein wird.
Für die Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen kommt es nicht auf die Zahl der Fälle an, sondern auf den Anteil derjenigen Fälle, die intensivbehandlungsbedürftig werden. Dieser Anteil steht nicht in einer gleichbleibenden Relation zur Gesamtzahl der Fälle.
Je besser die Risikogruppen gegen Infektionen geschützt werden, desto geringer wird das Risiko einer Überlastung der Intensivstationen.
Je größer der Anteil der Menschen aus den Risikogruppen, die geimpft sind, desto geringer wird das Risiko einer Überlastung der Intensivstationen.
Das Risiko schwerer, intensivbehandlungsbedürftiger Krankheitsverläufe hängt auch von der altersspezifischen Inzidenz ab. Da bei jungen Menschen die Infektion mit SARS-CoV-2 in der Regel entweder gar nicht zur Erkrankung oder nur zu einem milden Krankheitsverlauf führt, während bei alten Menschen das Risiko wesentlich höher und bei sehr alten Menschen sehr hoch ist, ist eine hohe Inzidenz unter jungen Menschen für die Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen irrelevant.
Das Risiko schwerer, intensivbehandlungsbedürftiger Krankheitsverläufe hängt auch von den Therapiemöglichkeiten ab. Wenn es neue Erkenntnisse über medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten gibt, die schwere Krankheitsverläufe verhindern, muss dies das Risiko der Überlastung der Intensivstationen erheblich senken. Beispielsweise wurde kürzlich eine Studie veröffentlicht, derzufolge das Asthma-Spray Budesonid, wenn es Covid-19 Patienten in einem frühen Stadium der Infektion verabreicht wird, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einen schweren Krankheitsverlauf verhindert.
38 Vgl. z.B. Matthias Schrappe, Stellungnahme v. 28.10.2020, BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)233(6), S. 5.
39 Tim Röhn, Wir müssen die Ergebnisse der PCR-Tests genauer auswerten, Welt 15.4.2021, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article230407507/Ct-Wert-Wir-muessen-die-Ergebnisse-
der-PCR-Tests-genauer-auswerten.html?cid=onsite.onsitesearch (abgerufen am 19.4.2021).
Je größer der Anteil der Geimpften sein wird, desto mehr sinkt das Risiko einer
Überlastung der Intensivstationen.
Da die altersund berufsmäßig am meisten gefährdeten Personen zuerst geimpft werden, wird unter den nicht geimpften Menschen der prozentuale Anteil derer immer größer, die aufgrund ihres Alters und ihres allgemeinen Gesundheitszustands nur ein geringes Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs haben. Das Ansteigen der Inzidenz wird auch unter diesem Aspekt ständig an Bedeutung für die Prognose einer Überlastung der Intensivstationen verlieren.
Freilich kann es auch gegenläufige Entwicklungen geben, etwa wenn Mutanten auftreten, die auch bei jüngeren Menschen zu schweren Krankheitsverläufen führen oder gegen die geimpfte Menschen nicht immun sind. Auch das spiegelt sich nicht in den Inzidenzwerten.
Die Gefahr der Überlastung der Intensivstationen hängt nicht nur von der Entwicklung der Corona-Pandemie ab. Sie hängt auch davon ab, wie viele Intensivpatienten mit anderen Indikationen es gibt. Merkwürdigerweise ist seit Beginn der Corona-Pandemie die Zahl der belegten Intensivbetten trotz stark steigender und fallender Zahlen intensivbehandlungsbedürftiger Covid-19-Patienten stets in etwa gleich geblieben.40
Teilweise lässt sich dies damit erklären, dass bei hoher Auslastung aufschiebbare
Operationen verschoben werden.
Die Betrachtung eines Landoder Stadtkreises kann zu kurz greifen. Sind in den Nachbarkreisen die Inzidenzen viel niedriger, ist die Situation in dem betreffenden Kreis weniger gefährlich als der dortige Inzidenzwert anzeigt. Sind umgekehrt die Inzidenzen in den umliegenden Kreise viel höher, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich in dem betreffenden Kreis eine höhere Infektionsdynamik entwickelt, größer als es der Inzidenzwert vermuten lässt.
Wie wahrscheinlich es ist, dass die Intensivstationen überlastet werden, hängt also schon epidemiologisch von vielen Umständen ab, die mit der in den Inzidenzwerten wiedergegebenen Zahl der positiv getesteten Menschen nichts zu tun haben.
Die Wahrscheinlichkeit der Überlastung der Intensivstationen wird außerdem durch Umstände mitbestimmt, auf die der Staat Einfluss nehmen kann. Wenn die Zahl der verfügbaren Intensivbetten erhöht wird, sinkt die Wahrscheinlichkeit der Überlastung der Intensivstationen. Wenn erfolgversprechende Medikamente schnell zum Einsatz gebracht werden (z.B. Budesonid, s.o.), sinkt die Zahl der schweren Krankheitsverläufe und damit die Wahrscheinlichkeit der Überlastung der Intensivstationen. Auch die Forcierung der Impfkampagne kann dazu beitragen.
(1.3) Zwischenergebnis
Die alleinige Orientierung der „Bundes-Notbremse“ an dem Inzidenz-Schwellenwert 100 ist schon deshalb verfassungswidrig, weil sie die Erforderlichkeit der durch den Inzidenzwert-Automatismus ausgelösten Freiheitseinschränkungen nicht zu begründen vermag.
40 https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/zeitreihen(abgerufen am 19.4.2021).
Denn die Inzidenzwerte können durch Erhöhung der Testzahl hochgeschraubt werden, ohne dass sich die Gefährlichkeit des Infektionsgeschehens ändert (oben 1.1), und die bloße Zahl der positiv getesteten Personen sagt ohnehin nichts über die Größe des Risikos aus, dass die Intensivstationen überlastet werden könnten (oben 1.2).
(2) Mangelnde Erforderlichkeit der Maßnahmen bei Überschreitung des InzidenzSchwellenwerts
§ 28b Abs. 1 IfSG wäre nur dann verfassungsmäßig, wenn die durch den InzidenzwertAutomatismus ausgelösten Maßnahmen in jedemFall erforderlich zur Erreichung des Gesetzeszwecks, nämlich der Vermeidung einer Überlastung der Intensivstationen,41 wären. Dies ist evident nicht der Fall. Selbst wenn man unterstellt, dass im Sinne der Bundesregierung und des Gesetzgebers die Überschreitung des Inzidenz-Schwellenwerts 100 die Gefahr einer Überlastung der Intensivstationen indiziert (was nach den Ausführungen oben (1) nicht der Fall ist), sind Situationen nicht nur denkbar, sondern durchaus naheliegend, in denen die Überschreitung des Schwellenwerts in einem Stadtoder Landkreis in Abweichung von der typischen Gefahrensituation keine Gefahr begründet. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn ein lokaler Ausbruch – etwa in einer Großschlachterei, in einem Gefängnis, in einer Schule – die Inzidenzwerte in dem betreffenden Landkreis in die Höhe triebe, während die Infizierten isoliert und ihre Kontakte rückverfolgt werden konnten. Dann wäre trotz hoher Inzidenz keine erhöhte Infektionsgefahr gegeben.
Ein anderes Beispiel: In einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt und/oder in den umliegenden Kreisen gibt es Krankenhäuser mit sehr vielen freien Intensivbetten. In dieser regionalen Umgebung führt auch ein höherer Inzidenzwert nicht zu einer Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems.
Daraus folgt, dass ein Inzidenzwert-Schematismus, der regionale Differenzierungen nicht zulässt, mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip unvereinbar ist. § 28b Abs. 1 IfSG wäre nur dann mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbar, wenn er für Situationen wie den oben genannten Ausnahmen zuließe oder wenn er den Eintritt der Rechtsfolge von der vorherigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch die zuständige örtliche Behörde und ihre konkretisierende Entscheidung abhängig gemacht hätte. Dies ist aber nicht der Fall. Der Inzidenzwert-Automatismus des § 28b Abs. 1 IfSG schießt über das Ziel hinaus, indem er Landkreise und kreisfreie Städte in den verschärften Lockdown schickt, in denen weit und breit keine Gefahr für die Überlastung der Intensivstationen zu sehen ist.
Das Gesetz lässt zwar strengere Regelungen der Länder zu (§ 28b Abs. 4 IfSG), aber nicht mildere Regelungen für den Fall, dass in einem Landkreis trotz hoher Inzidenzwerte eindeutig keine Gefahr für die Überlastung der Intensivstationen besteht. Die Verhältnismäßigkeit hätte unter diesem Aspekt dadurch hergestellt werden können, dass die Geltung der Maßnahmen nicht automatisch durch Überschreitung des Inzidenz-Schwellenwerts ausgelöst, sondern durch die zuständigen lokalen Behörden nach Feststellung der situationsbezogenen Verhältnismäßigkeit angeordnet würden, oder dass Abweichungsbefug-
41 S.o. Fn. 36.
nisse für die Länder zur Anpassung an die Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung regionaler oder lokaler Verhältnisse eröffnet würden.
Ein weiteres Erforderlichkeitsproblem ergibt sich für große Landkreise. Es ist möglich, dass dort z.B. in einer Stadt sich ein sehr dynamisches Infektionsgeschehen entwickelt, das verschärfte Eindämmungsmaßnahmen erforderlich macht, während es auf dem flachen Land niedrige Inzidenzen und keine Probleme gibt. Dann ist es nicht erforderlich, die verschärften Maßnahmen für den ganzen Landkreis anzuordnen.
Umgekehrt ist es möglich, dass im Landkreis die Inzidenz hoch ist, während eine einzelne Stadt aufgrund eines besonderen Pandemiekonzepts eine sehr viel niedrigere Inzidenz hat, wie das zur Zeit in Tübingen der Fall ist.42 Wegen § 28b Abs. 1 IfSG muss Tübingen sogar einen wissenschaftlich begleiteten Modellversuch abbrechen, der in vorbildlicher Weise zeigen will, wie man ohne scharfen Lockdown die Inzidenz niedrig halten kann. Es dient nicht der Verwirklichung des Gesetzeszwecks, solche Modellversuche zu verhindern. Selbst ohne Modellversuch wäre nicht einzusehen, dass eine Stadt mit niedriger Inzidenz automatisch – also ohne Analyse der konkreten Gefahrenlage – die Läden und die Gastronomie und andere Einrichtungen schließen muss, wenn im Landkreis die Inzidenz über 100 ist.
Das Gesetz ist daher insoweit verfassungswidrig, als es keine Abweichung vom gesetzlichen Schema zulässt, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt oder in einem Teil eines Landkreises trotz Überschreitung des Schwellenwertes keine Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems besteht.
(3) Mangelnde Angemessenheit der Maßnahmen trotz Überschreitung des InzidenzSchwellenwertes
Der Gesetzgeber hat, soweit aus der Gesetzesbegründung43 ersichtlich, überhaupt keine Abwägung mit den Freiheitseinschränkungen und ihren negativen Folgen vorgenommen. Welche Folgen der Gesetzgeber hätte abschätzen und berücksichtigen müssen, habe ich in einer publizierten Abhandlung dargelegt, auf die ich verweise.44 Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber die schon sehr lange Dauer der Freiheitsbeschränkungen für über 80 Millionen Menschen berücksichtigt hat. Er ist auch nicht ersichtlich, dass er berücksichtigt hat, dass fast alle dieser Menschen „Nichtstörer“ im gefahrenabwehrrechtlichen Sinne, also für die Gefahr nicht verantwortlich sind.
Schon die unterbliebene Abwägung macht den Inzidenzwert-Automatismus verfassungswidrig. Denn der Staat muss jede Freiheitseinschränkung rechtfertigen und begründen.
Aber unterstellt, eine sachgerechte Vorteilsund Nachteilsabwägung habe stattgefunden, habe vertretbar zu dem Ergebnis geführt, dass in der konkreten Situation die mit § 28b
42 Dazu vgl. den Bericht „OB Palmer will Tübinger Corona-Modellversuch trotz Bundesnotbremse weiterführen“, SWR 15.4.2021, https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/tuebingen-will-modellversuch-verlaengern-100.html (abgerufen am 20.4.2021).
43 BT-Drs. 19/28444, S. 8 ff.
44 Dietrich Murswiek, Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von
Corona-Maßnahmen, NVwZ-Extra 5/2021, S. 1 (11 ff.), https://rsw.beck.de/rsw/upload/NVwZ/Extra_5-2021.pdf.
Abs. 1 IfSG erstrebten Gemeinwohlvorteile die Nachteile der verschärften LockdownMaßnahmen überwögen, und im Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses sei deshalb die Anknüpfung der Rechtsfolgen an den Inzidenz-Schwellenwert 100 angemessen gewesen, so ist doch nicht garantiert, dass dies so bleiben wird. Wenn sich zeigen sollte, dass manche der Maßnahmen nur einen sehr geringen positiven Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben, während neue Erkenntnisse über negative Auswirkungen mancher Maßnahmen und über Kollateralschäden gewonnen werden, kann die Abwägung schon in ein, zwei Wochen anders ausfallen. Da das Gesetz aber eine starre Schwelle festlegt, haben die Behörden keine Möglichkeit, neue Entwicklungen und Erkenntnisse zu verarbeiten. Sie sind eben ausgeschaltet, weil sie gar nichts mehr zu entscheiden haben.
Dies wird sich besonders dann negativ auswirken, wenn regionale Differenzierungen auch hinsichtlich der Angemessenheit der Maßnahmen notwendig werden. Die oben (2) genannten Umstände, die dazu führen könnten, dass verschärfte Maßnahmen in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt nicht erforderlich sind, können – falls sie nicht zur Verneinung der Erforderlichkeit führen – jedenfalls die Unangemessenheit begründen. Unter Berücksichtigung der regionalen Verhältnisse können bestimmte Maßnahmen unverhältnismäßig sein, weil ihr Nutzen so gering ist, dass er in keinem angemessenen Verhältnis zu den Freiheitseinbußen und ihren Kollateralfolgen steht.
b) Fehlende Eingriffsrechtfertigung einzelner Verbote und Gebote
Die einzelnen Verbote und Gebote des § 28b Abs. 1 IfSG sind auch unabhängig von der Verfassungswidrigkeit des Regelungsansatzes – des Inzidenzwert-Automatismus – (oben a) mit dem Grundgesetz teilweise unvereinbar, weil sie – wie im folgenden gezeigt wird
– über das zur Erreichung des gesetzlichen Ziels erforderliche Maß hinausgehen oder für einen Teil der Betroffenen unzumutbar sind oder weil sie aus weiteren Gründen gegen die Grundrechte verstoßen
aa) Die Unverhältnismäßigkeit der Kontaktbegrenzungen
Die Kontaktbegrenzung gemäß § 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG ist insoweit unangemessen und für die Betroffenen unzumutbar als sie Kontakte auf eine weitere Person beschränkt und keine zweite Person aus demselben Haushalt zulässt. Dies gilt zumindest für Ehegatten beziehungsweise Lebenspartner, die die Familien ihrer Kinder besuchen oder von diesen besucht werden wollen. Hier liegt ein Eingriff in das Recht auf Ehe und Familie (Art. 6
Abs. 1 GG) vor. Die Unterbindung von Kontakten zwischen engen Familienangehörigen beeinträchtigt die Betroffenen sehr schwer.
Der Eingriff wirkt noch intensiver, wenn er faktisch die Kontakte zwischen engen Verwandten unmöglich macht oder wesentlich erschwert, weil eine Person auf die Hilfe des Ehegatten/Lebenspartners für einen Besuch bei Kindern/Enkeln angewiesen ist, wie dies für die Bf. zu 3. und 4. oben (B.I.1.d) geschildert wurde. Aber auch wenn aus anderen Gründen Besuche von Kindern und Enkeln unterbleiben, weil sie sich faktisch nicht arrangieren lassen, wenn nur ein Teil des betreffenden Ehepaars zu den Kindern und Enkeln beziehungsweise umgekehrt zu den Eltern/Schwiegereltern reisen darf (siehe oben
B.I.1.c), wiegt der Eingriff sehr viel schwerer als bei beliebigen sonstigen Kontakten, die durch die Vorschrift verhindert werden.
Demgegenüber ist der Gewinn des Verbots für die Pandemiebekämpfung insoweit äußerst gering, wenn es den überhaupt einen Gewinn gibt. Denn Ehepaare beziehungsweise Lebenspartner, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, werden in aller Regel entweder beide gesund und nichtinfektiös oder beide infiziert sein. Das Risiko zusätzlicher Ansteckungen wird also so gut wie gar nicht erhöht, wenn für die die genannten Personen eine Ausnahme gemacht und gemeinsame Besuche von Ehepaaren/Lebenspartnern bei ihren Kindern oder Eltern zugelassen werden.
Das Gesetz lässt aber diese Ausnahme nicht zu. Soweit die Kontaktbeschränkung sich auf gemeinsame Besuche von Ehepaaren/Lebenspartnern bei ihren Kindern oder Eltern erstreckt, ist sie nicht erforderlich oder jedenfalls im engeren Sinne unverhältnismäßig.
bb) Die Verfassungswidrigkeit der nächtlichen Ausgangssperre
Die nächtliche Ausgangssperre verstößt gegen Art. 104 Abs. 1 GG (1). Unabhängig davon ist sie auch wegen Unverhältnismäßigkeit verfassungswidrig (2).
(1) Verfassungswidrigkeit der Einschränkung der Freiheit der Person unmittelbar durch
Gesetz
Die nächtliche Ausgangssperre schränkt die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ein (oben C.I.1.). Einschränkungen dieser Freiheit sind gemäß Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG nicht durch Gesetz, sondern nur aufgrund eines Gesetzes, also durch eine auf der Basis einer Ermächtigung in einem Parlamentsgesetz getroffenen Exekutiventscheidung, erlaubt.45 Der Zweck dieser Regelung liegt auf der Hand: Es soll nicht eine unbestimmte Vielzahl von Menschen aufgrund generell-abstrakter Kriterien ihrer Freiheit beraubt werden, sondern Einschränkungen der Freiheit der Person sollen nur zulässig sein, wenn es besondere – in der jeweiligen Person liegende – Gründe hierfür gibt und die zuständige Behörde im Einzelfall prüft, ob diese Gründe gegeben sind. Dass der Gesetzgeber die ganze Bevölkerung unabhängig davon, ob von der einzelnen Person eine Gefahr ausgeht, in der Wohnung einsperren darf, ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Das gilt nicht nur für den Hausarrest rund um die Uhr, sondern auch für auf bestimmte Tageszeiten begrenzte Ausgangssperren.
45 Ebenso Thorsten Kingreen, Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(19) v. 16.4.2021, S. 7; ders., BT Ausschuss f. Gesundheit, Wortprotokoll der 154 Sitzung v. 16.4.2021, Protokoll-
Nr. 19/154, S. 19; Robert Seegmüller, Stellungnahme zu dem Entwurf eines Vierten Gesetzes zum
Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(16), S. 4; Christoph Möllers, Stellungnahme zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache
19(14)323(2), S. 5; Andrea Kießling, Stellungnahme als geladene Einzelsachverständige für die öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss, BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(6) v. 15.4.2021, S. 8.
Somit verstößt die nächtliche Ausgangssperre schon deshalb gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2
GG, weil sie den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG
nicht entspricht.46
(2) Verstoß der Ausgangssperre gegen das Bestimmtheitsgebot
§ 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG genügt nicht dem Bestimmtheitsgebot, das streng einzuhalten ist, da die Vorschrift gemäß § 73 Abs. 1a Nr. 11c IfSG (neu eingefügt durch Nr. 5 des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite) bußgeldbewehrt ist.
Die mangelnde Bestimmtheit ergibt sich vor allem aus der Generalklausel von lit. f). Zwar sind Generalklauseln nicht völlig unzulässig. Sie müssen aber aus dem Kontext heraus auch von den Betroffenen konkretisiert werden können. Dies hätte hier einer näheren Eingrenzung durch den Gesetzgeber bedurft. Das Gesetz überlässt dem Einzelnen das Konkretisierungsrisiko. Der Betroffene setzt sich dem Risiko einer empfindlichen Geldbuße aus, wenn er meint, einen triftigen Grund im Sinne dieser Vorschrift zu haben, während die Polizei und das Amtsgericht das anders sehen. Diese Möglichkeit wird dazu führen, dass viele Menschen ihre Grundrechte aus Furcht vor einer Geldbuße und aus Sorge, gesetzwidrig zu handeln, nicht wahrnehmen.47
(3) Die Unverhältnismäßigkeit der nächtlichen Ausgangssperre
(3.1) Die allgemeine Unangemessenheit der nächtlichen Ausgangssperre
Die körperliche Bewegungsfreiheit ist ein elementares, für ein würdiges menschliches Leben unerlässliches verfassungsrechtliches Schutzgut. Das gilt unabhängig davon, ob man sie – wie hier vertreten – in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, oder wie der Bundestag es sehen will, „nur“ in Art. 2 Abs. 1 GG geschützt ist. Träfe letzteres zu, entfiele zwar das Verbot einer Einschränkung unmittelbar durch Gesetz. An der elementaren Bedeutung der Bewegungsfreiheit – an der Freiheit nicht an einem bestimmten, eng begrenzten Ort bleiben zu müssen – änderte dies aber nichts.
Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit für 80 Millionen Menschen ist daher ein sehr schwerwiegender Eingriff, der sich nur rechtfertigen lässt, wenn er unerlässlich ist, um ein in der konkreten Abwägung noch schwerer wiegendes Gemeinwohlgut zu schützen.
Gemeinwohlziel der Ausgangssperre ist der Schutz von Leben und Gesundheit durch Vermeidung einer Überlastung der Intensivstationen. Ob die nächtliche Ausgangssperre geeignet und erforderlich ist, diesem Ziel zu dienen, erscheint als fraglich. Mit den Studien, auf die die Gesetzesbegründung sich bezieht, lässt sich dies nicht nachweisen.48
Gerade ist eine neue Studie publiziert worden, welche speziell nächtliche Ausgangssperren
46 Ebenso die in Fn. 45 zitierten Autoren.
47 Zur mangelnden Bestimmtheit von § 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG vgl. Seegmüller(Fn. 45), S. 5; Anna
Katharina Mangold, Kurzgutachten: „Grundrechtliche Bewertung einer Ausgangsspeörre zur Pandemiebekämpfung“, 20.4.2021, https://freiheitsrechte.org/home/wp-content/uploads/2021/04/GFFGutachten-Ausgangssperren.pdf (abgerufen am 20.4.2021), S. 16 f.
48 Möllers(Fn. 45), S. 6.
untersucht hat, und zwar in hessischen Landkreisen und kreisfreien Städten. Das Ergebnis: „Wir finden keine statistisch signifikante Evidenz, dass nächtliche Ausgangssperren eine Auswirkung auf die Verbreitung der Pandemie haben“.49
Im Hinblick auf den Einschätzungsspielraum, der dem Gesetzgeber zusteht, mag es noch als vertretbar erscheinen, die Eignung und Erforderlichkeit – die ja schon dann gegeben sind, wenn die Maßnahme überhaupt nur irgendetwas zur Zielerreichung beiträgt – zu bejahen. Jedoch ergibt die gebotene Güterabwägung, dass die nächtliche Ausgangssperre eindeutig unverhältnismäßig im engeren Sinne ist.
Der Schutz von Leben und Gesundheit durch Vermeidung der Überlastung der Intensivstationen ist – abstrakt betrachtet – ein sehr hochrangiges Ziel. Und auf der anderen Seite wird das Gewicht der Freiheitseinschränkung wesentlich dadurch gemindert, dass sie sich auf die Nachtstunden beschränkt. Es wäre aber verfassungsrechtlich völlig falsch, nun einfach zu sagen, Leben und Gesundheit wögen schwerer als das Verbot, zu einer Zeit, in der die meisten Menschen ohnehin schlafen, die Wohnung zu verlassen. Verfassungsrechtlich kommt es vielmehr auf eine konkrete Güterabwägung an: Welchen Nutzen bringt die nächtliche Ausgangssperre für die Vermeidung der Überlastung der Intensivstationen? Wiegt dieser konkrete Nutzen schwerer als die konkreten Nachteile für die Betroffenen?50
Die Rechtfertigung der Ausgangssperre setzt daher voraus, dass zunächst ermittelt und dargelegt wird, welchen Nutzen sie für die Erreichung des gesetzlichen Gemeinwohlziels hat. Wieviele SARS-CoV-2-Infektionen lassen sich durch die nächtliche Ausgangssperre vermeiden? Wieviele schwerwiegende, intensivbehandlungsbedürftige Covid-19-Erkrankungen resultieren daraus wahrscheinlich? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus diesem Grunde die Intensivstationen überlastet werden?
Es kommt freilich nicht darauf an, ob die Ausgangssperre für sich betrachtet die Überlastung der Intensivstationen verhindern kann. Sie ist Teil eines Maßnahmebündels und muss bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung in diesem Kontext bewertet werden. Aber dies ändert nichts daran, dass der konkrete Beitrag zu dem gesamten Pandemiebekämpfungskonzept ermittelt werden muss. Und nur der konkrete Beitrag – also die Verminderung der Wahrscheinlichkeit einer Überlastung der Intensivstationen durch die Ausgangssperre – geht in die Abwägung ein.
Der Gesetzgeber hat offensichtlich keine konkrete Abwägung vorgenommen, sondern sich mit allgemeinen Behauptungen und Vermutungen begnügt.51 Die Ausgangssperre ist ein Schuss ins Blaue. Der Gesetzgeber ordnet eine drakonische Maßnahme an in der
49 Samuel de Haas / Georg Götz / Sven Heim, Measuring the effects of COVID-19-related night curfews:Empirical evidence from Germany, 21.4.2021, https://www.uni-giessen.de/fbz/fb02/fb/pro- fessuren/vwl/goetz/forschung/publikationenordner/arbeitspapiere/Curfews (abgerufen am
21.4.2021) – Anlage 10; dazu FAZ 21.4.2021, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/uni-gies-
sen-naechtliche-ausgangssperren-laut-studie-nicht-effektiv-17304680.html (abgerufen am
21.4.2021).
50 Ausführlich zum Erfordernis einer konkreten Vorteils-/Nachteilsabwägung und zu den dabei zu beachtenden Umständen Dietrich Murswiek, Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der
Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, NVwZ-Extra 5/2021, S. 1 (6 ff.).
51 Siehe BT-Drs. 19/28444, S. 12.
Hoffnung, dass sie für die Pandemiebekämpfung etwas bringt. Das reicht zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs nicht aus.
Im einzelnen sind bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zwei vom Gesetzgeber intendierte Wirkungen der Ausgangssperre zu unterscheiden: Zum einen geht es darum, Infektionen zu vermeiden, die durch zufällige Kontakte mit anderen Menschen (auf der Straße, im Hausflur, im Wald usw.) entstehen (2.1.1). Zum anderen will der Gesetzgeber mit der Ausgangssperre verhindern, dass Menschen sich nachts unter Verstoß gegen das Kontaktverbot treffen (2.1.2).52
(3.1.1) Die unmittelbare Wirkung der Ausgangssperre auf das Infektionsgeschehen
Unmittelbar hat die nächtliche Ausgangssperre keine epidemiologisch relevante Auswirkung auf das Infektionsgeschehen. Unter diesem Aspekt könnte sie sogar als ungeeignet zur Erreichung des gesetzlichen Ziels anzusehen sein, weil sie keinen oder allenfalls einen minimalen Beitrag dazu leistet.
Unmittelbar kann die nächtliche Ausgangssperre Infektionen verhindern, die nach dem Verlassen der Wohnung bis zur Rückkehr in die Wohnung oder bis zum Betreten einer anderen Wohnung stattfinden könnten.
Nach den Erkenntnissen der Aerosolforschung finden aber SARS-CoV-2-Infektionen fast ausschließlich in geschlossenen Räumen und nur äußerst selten unter freiem Himmel statt. Die seltenen Infektionen unter freiem Himmel finden statt, wenn Menschen sich im Freien treffen, zusammen verweilen, miteinander reden und dabei weder den gebotenen Mindestabstand einhalten noch eine Maske tragen.53 In einer Stellungnahme der Gesellschaft für Aerosolforschung heißt es:
„In a study of infection chains, Qian et al.54 found that COVID-19 infection is essentially an indoor phenomenonand that almost no infections occur outdoors, i.e. outside enclosed spaces. Out of more than 7000 observed and documented infections, only one single infection occurred outdoors. This is probably due to the fact that a rapid dilution of virus-laden aerosol particles is to be expected in outdoor areas, which reduces the risk of infection. However, especially in large
crowds with small distances between people, an infection cannot be ruled out even outdoors.”55
Die Gefahr einer Infektion beim Fußweg durch die nachts nahezu menschenleere Stadt tendiert gegen Null. Erst recht wird man auf dem Lande nach 22 Uhr und erst recht nach Mitternacht draußen nicht in dichtes Menschengedränge geraten, sondern praktisch keinem Menschen begegnen, und wenn, dann im flüchtigen Vorübergehen und mit Abstand.
52 Vgl. BT-Drs. 19/28444, S. 12.
53 Vgl. Gesellschaft für Aerosolforschung, Position paper of the Gesellschaft für Aerosolforschung on understanding the role of aerosol particles in SARS-CoV-2 infection v. 17.12.2020,
https://doi.org/10.5281/ZENODO.4350494; Offener Brief von Aerosolwissenschaftlern vom
11.4.2021, http://docs.dpaq.de/17532-offener_brief_aerosolwissenschaftler.pdf(abgerufen am
20.4.2021).
54 H. Qian, T. Miao, L. Liu, X. Zheng, D. Luo und Y. Li, „Indoor transmission of SARS-CoV-2,“
medRxiv (preprint), p. https://doi.org/10.1101/2020.04.04.20053058doi, 2020.
55 O. Fn. 53, S. 16.
Dass es zu einer Infektion bei einer Begegnung im Treppenhaus nach Verlassen der Wohnung kommen könne,56 ist eine an den Haaren herbeigezogene Konstruktion, aber keine epidemiologisch relevante Gefahr.
Problematisch sind unter freiem Himmel nur geplante Zusammenkünfte, also beispielsweise Treffen von Jugendlichen, die – vielleicht mit Alkohol und ohne Masken – draußen
„feiern“, „Party machen“ usw. Solche Zusammenkünfte sind aber ohnehin gemäß § 28b
Abs. 1 Nr. 1 IfSG verboten. Einer Ausgangssperre bedarf es dafür nicht.
Solche in der Öffentlichkeit stattfindenden Zusammenkünfte unter freiem Himmel lassen sich mindestens ebensogut kontrollieren wie die Ausgangssperre, ja sogar noch besser: Denn bei einer Gruppenbildung mit den üblichen Begleitumständen (Musik, Bier usw.) liegt der Verstoß gegen Nr. 1 sehr nahe, während die Polizei bei einzelnen Personen, die sich nachts draußen bewegen, nicht weiß, ob ein triftiger Grund vorliegt.
(3.1.2) Die mittelbare Einwirkung der Ausgangssperre auf die Verhinderung verbotener
Kontakte
Einen realistischen Effekt auf die Verminderung von SARS-CoV-2-Infektionen kann die nächtliche Ausgangssperre demnach allenfalls in ihrer Stoßrichtung zur indirekten Infektionsbekämpfung haben: Mit Hilfe der Ausgangssperre soll verhindert werden, dass es nachts zu „unzulässigen Kontakten“ in geschlossenen Räumen kommt.
Auch hinsichtlich dieses Effekts ist aber empirisch nicht belegt, dass die nächtliche Ausgangssperre einen wesentlichen Effekt für die Infektionsbekämpfung hat. Allenfalls „moderate Wirkungen“ werden angenommen. Nichts anderes ergibt sich aus den drei Studien57, auf die sich die Gesetzesbegründung58 bezieht.59
Zu diesen Studien hat Christoph Möllersals Sachverständiger vor dem Gesundheitsausschuss ausgeführt, keine dieser Studien belege die Erforderlichkeit einer Ausgangssperre, und kommentiert sie wie folgt:60
„Bei Sharmaet al. kommen die Daten zu Ausgangssperren allein aus Italien, einigen Regionen in Deutschland und einigen Regionen in Österreich und beziehen sich nur auf einen kurzen Zeitraum. Bei Ghasemiet al. wird die Auswirkung auf die COVID-Inzidenz gar nicht untersucht, es
56 Gesetzesbegründung BT-Drs. 19/28444, S. 12.
57 Sie zitiert Sharma et al., Understanding the effectiveness of government interventions in Europe’s second wave of COVID-19, abrufbar unter: https://www.medrxiv.org/con-
tent/10.1101/2021.03.25.21254330v1.full.pdf; Ghasemi et al., Impact of a nighttime curfew on
overnight mobility, abrufbar unter: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.04.04.21254906v1; Di Domenico et al., Impact of January 2021 curfew measures on SARSCoV-2 B.1.1.7 circulation in France, abrufbar unter https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.02.14.21251708v2.full.
58 BT-Drs. 19/28444, S. 12.
59 Ebenso Thorsten Kingreen; Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler
Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(19) v. 16.4.2021,
S. 8; Christoph Möllers, Stellungnahme zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(2), S. 6
60 MöllersFn. 59.
bleibt bei der Beobachtung der nächtlichen Mobilität. Bei di Domenicoet al. ist es nicht wirklich möglich, den Einfluss der Ausgangssperre von anderen Maßnahmen zu trennen. Ich lese die Evidenz so, dass stärkere social distancing-Maßnahmen, die tatsächlich Kontakte reduzieren (home office, Kontaktbeschränkungen), deutlich effektiver sind und Ausgangsperren alleine wenig bringen.“
Kann also von der nächtlichen Ausgangssperre allenfalls ein kleiner Beitrag zur Reduzierung verbotener Kontakte und indirekt zur Verminderung von Infektionen erwartet werden,61 muss weiterhin berücksichtigt werden, dass der Zweck insoweit ja die Verhinderung ohnehin verbotener Zusammenkünfte ist. Das heißt, dass die Ausgangssperre allein dem Zweck dient, der Polizei die Arbeit zu erleichtern. Millionen von Menschen sollen nach dem Gesetz schwerwiegende Freiheitseinschränkungen hinnehmen, weil es wenige Menschen gibt, die sich nicht an die Kontaktbeschränkungen halten und die Polizei dies nicht hinreichend kontrollieren kann oder nicht kontrollieren will, z.B. in sozialen Brennpunktvierteln, in denen die Auflösung von Parties möglicherweise auf Widerstand stößt. Dazu hat das OVG Lüneburggesagt:
Vorrangig seien „Maßnahmen, die ein noch aktiveres Handeln staatlicher Stellen bei der Pandemiebekämpfung erfordern, in den Blick zu nehmen und zu forcieren“; bevor „dies nicht geschehen ist oder bevor nicht feststeht, dass solche Maßnahmen nicht erfolgversprechend ergriffen oder verbessert werden können, erscheint es nicht angemessen, alle in einem bestimmten Gebiet lebenden Personen einer Ausgangsbeschränkung zu unterwerfen, nur weil einzelne Personen und Personengruppen die geltenden allgemeinen Kontaktbeschränkungen nicht freiwillig befolgen oder nicht staatlicherseits alles Mögliche und Zumutbare unternommen wurde, um gegenüber diesen Personen und Personengruppen die Einhaltung der allgemeinen Kontaktbeschränkungen durchzusetzen, zumal auch die Ausgangsbeschränkung der freiwilligen Befolgung oder nötigen-
falls der staatlichen Durchsetzung bedürfte“.62
Außerdem weise ich auf folgende Umstände hin, die die Wirksamkeit der nächtlichen Ausgangssperre begrenzen, zum Teil konterkarieren und zum Teil die negativen Folgen für die Freiheit der Betroffenen drastisch erhöhen:
Da man sich nicht in der eigenen Wohnung aufhalten muss, führt die Ausgangsbeschränkung dazu, dass Menschen, die nach einer Zusammenkunft nicht mehr vor
22.00 Uhr nach Hause kommen können, in der fremden Wohnung übernachten müssen. Das intensiviert die Infektionsgefahr. Wer hingegen allein mit dem Auto nach Hause fährt, kann niemanden anstecken.
Wer – z.B. nach einem Verwandtenbesuch – allein mit dem Auto nach Hause fährt, gefährdet niemanden. Wer eine Autofahrt von vier Stunden vor sich hat, um nach Hause zu kommen, für den beginnt die Ausgangssperre faktisch schon um 18.00 Uhr. Dies schränkt die Möglichkeit, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, drastisch ein, ohne dass damit für den Infektionsschutz irgend etwas gewonnen wäre. Würde man aber das Gesetz so auslegen, dass der Weg von einem beliebigen Ausgangsort nach Hause nicht unter die Ausgangssperre fiele beziehungsweise als
61 Ich weise nochmals auf die oben in Fn. 49 zitierte Studie hin, die überhaupt keinen Effekt gefunden hat.
62 OVG Lüneburg, Beschl. v. 6.4.2021 – 13 ME 166/21, Rn. 37.
triftiger Grund im Sinne von Nr. 2 lit. f) gewertet würde, dann könnte die Ausgangssperre so gut wie keine Auswirkung zur Infektionsbekämpfung mehr entwickeln, weil sie sich völlig unterlaufen ließe.63
Im Ergebnis wird die nächtliche Ausgangssperre in der Rechtswissenschaft daher ganz überwiegend und zutreffend als unverhältnismäßig und somit verfassungswidrig bewertet.64
(3.2) Die fehlende Erforderlichkeit und mangelnde Angemessenheit des Spaziergangsverbots für in einem gemeinsamen Haushalt lebende Eheoder Lebenspartner
In der Zeit von 22-24 Uhr ist nach § 28b Abs. 1 Nr. 2 lit. g) IfSG die im Freien stattfindende allein ausgeübte körperliche Bewegung, nicht jedoch in Sportanlagenvon der nächtlichen Ausgangssperre ausgenommen.
Es ist prinzipiell sinnvoll, die Bewegung an der frischen Luft, ob Spaziergang oder Joggen, von der Ausgangssperre auszunehmen.
Nicht zu rechtfertigen ist es aber, dass Eheoder Lebenspartner, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, nicht gemeinsam spazierengehen oder Joggen dürfen. Denn daraus resultiert evident keine erhöhte Infektionsgefahr. Es ist zur Erreichung des Gesetzeszwecks weder geeignet noch erforderlich, ihnen die Pflicht aufzuerlegen, nur einzeln nächtliche Spaziergänge zu machen.
Durch diese Regelung wird unverhältnismäßig nicht nur in die allgemeine Handlungsfreiheit, sondern auch in das Recht auf freie Gestaltung des ehelichen Lebens (Art. 6 Abs.
1 GG) eingegriffen. Im vorliegenden Fall hat die Bf. zu 2. geltend gemacht, hiervon besonders betroffen zu sein (oben B.I.1.c).
Die Regelung führt auch zu einer faktischen Diskriminierung von Frauen. Denn Frauen fühlen sich im Hinblick auf immer wieder vorkommende sexuelle Übergriffe unsicher, wenn sie nachts allein unterwegs sind und vermeiden nächtliche Spaziergänge oder nächtliches Joggen, wenn sie das nicht mit einer anderen Person gemeinsam machen können, während Männer nicht in gleicher Weise gefährdet sind und eher von der Möglichkeit eines alleinigen nächtlichen Spaziergangs Gebrauch machen werden.
§ 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG ist also zumindest insoweit verfassungswidrig, als er Eheoder Lebenspartner gemeinsame körperliche Bewegung im Freien ab 22 Uhr verbietet, obwohl er sie Einzelpersonen in lit. g) gestattet.
63 Vgl. Anna Katharina Mangold, Kurzgutachten: „Grundrechtliche Bewertung einer Ausgangsspeörre zur Pandemiebekämpfung“, 20.4.2021, https://freiheitsrechte.org/home/wp-content/uploads/2021/04/GFF-Gutachten-Ausgangssperren.pdf (abgerufen am 20.4.2021), S. 8 f., 21.
64 Vgl. z.B. Mangold, Kurzgutachten (Fn. 63); Robert Seegmüller, Stellungnahme zu dem Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler
Tragweite […], BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(16), S. 4 f.; Möl-
lers(Fn. 59), S. 5 f.; Andrea Kießling, Stellungnahme als geladene Einzelsachverständige für die öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss, BT Ausschuss f. Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)323(6) v. 15.4.2021, S. 9 ff.; dies., NJW 2021, S. 182 f.; Felix Schmitt, Die Verfassungswidrigkeit der landesweiten Ausgangsverbote, NJW 2020, S. 1626 ff.
cc) Die Unverhältnismäßigkeit der Öffnungs- und Veranstaltungsverbote sowie des Beherbergungsverbots
Die Öffnungs- und Veranstaltungsverbote sowie das Beherbergungsverbot (§ 28b Abs. 1
Nr. 3-5, 7 und 10 IfSG) sind insoweit unverhältnismäßig als sie auch dann gelten, wenn der Betreiber der jeweiligen Einrichtung durch sein Hygienekonzept das Infektionsrisiko praktisch auf Null reduziert. Soweit dies möglich ist, sind die Maßnahmen nicht erforderlich. Soweit nicht die Reduktion auf Null, aber auf ein minimales Restrisiko möglich ist, sind die Verbote jedenfalls für diejenigen Einrichtungen im engeren Sinne unverhältnismäßig, die durch ihr Hygienekonzept die Risikoreduktion auf ein solches Restrisiko erreichen.
(1) Beispiel: Kunstausstellung
Wenn beispielsweise ein Galerist oder ein Kunstverein eine Kunstausstellung, die in einem einzelnen Raum stattfindet, so organisiert, dass Besucher nur mit Anmeldung für ein bestimmtes Zeitfenster kommen dürfen und nur ein Besucher allein oder mehrere Besucher aus demselben Haushalt den Raum betreten dürfen und vor Betreten des nächsten Besuchers der Raum gelüftet wird, dürfte das Infektionsrisiko äußerst gering sein. Um es noch weiter zu senken, könnte man von der Aufsichtsperson und von allen Besuchern einen negativen Test verlangen. Dann wäre ein verbleibendes Risiko epidemiologisch völlig irrelevant.
Es gibt keinen Grund, eine solche Veranstaltung zu verbieten. Deshalb verstößt § 28b Abs. 1 Nr. 5 IfSG mit seinem keine Ausnahmen für derartige Veranstaltungen vorsehenden Totalverbot gegen das Übermaßverbot. Natürlich ist es ein Thema für die Pandemiebekämpfung, wenn sich in einer „angesagten“ Kunstausstellung die Menschenmassen drängen. Das kann unterbunden werden. Aber für kleine Veranstaltungen, wie ich sie skizziert habe, besteht ein Bedarf. Für Künstler ist es nicht nur ein kommerzielles Anliegen, ihre Werke zeigen zu können, sondern das gehört zu ihrer Entfaltungsmöglichkeit als Künstler und Mensch, und diese Entfaltungsmöglichkeit wird hier unnötig unterbunden. Natürlich werden dadurch auch die Rechte der Kunstfreunde, die sich solche Ausstellungen anschauen wollten (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt.
(2) Beispiel: Außengastronomie
Wie oben65 bereits dargelegt, besteht im Freien nur ein sehr geringes Risiko, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren. Fast alle Infektionen finden in geschlossenen Räumen statt. Schon dies legt es nahe, die Außengastronomie von der Schließung der Gaststätten (§ 28b Abs. 1 Nr. 7 IfSG) auszunehmen. Freilich bleibt ein Infektionsrisiko, wenn sich eine Gruppe von Menschen zum Essen trifft und dabei auf nahem Raum ohne Maske zusammensitzt und Gespräche führt. Dieses Risiko kann aber durch ein Hygienekonzept fast vollständig ausgeschlossen werden. Dazu sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. Man
65 Im Text bei Fn. 53.
könnte zunächst die Öffnung der Außengastronomie davon abhängig machen, dass genügend Platz vorhanden ist, um die Tische mit genügend Abstand aufzustellen. Man könnte außerdem gemeinsame Tische für mehrere Personen auf Personen aus einem Haushalt beziehungsweise auf Gruppen beschränken, die sich gemäß Nr. 1 sogar in geschlossenen Räumen treffen dürfen. Wenn dann noch zusätzlich ein negativer Test verlangt wird, dürfte das verbleibende Risiko zur völligen Bedeutungslosigkeit minimiert sein. Eine totale Schließung der Außengastronomie ist zur Vermeidung einer Überlastung der Intensivstationen nicht erforderlich, zumindest aber unangemessen, und verstößt daher gegen die Grundrechte der Betroffenen.
Wie oben (B.I.1.) dargelegt sind die Bf. des vorliegenden Verfahrens von der völligen Schließung der Außengastronomie in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG betroffen, und wegen Unverhältnismäßigkeit der Regelung sind sie in diesem Recht auch verletzt.
(3) Beispiel: Ferienwohnungen und Ferienhäuser
Das Beherbergungsverbot zu touristischen Zwecken gilt nach § 28b Abs. 1 Nr. 10 IfSG ohne Ausnahme. Es gibt aber Ferienwohnungen und Ferienhäuser, deren Benutzung ohne Kontakt mit anderen Menschen möglich ist. Der einzige Kontakt findet bei der Schlüsselübergabe statt, und selbst dies lässt sich kontaktlos gestalten. Wenn solche Ferienwohnungen oder Ferienhäuser nur an Angehörige desselben Hausstandes vermietet werden, ist das Infektionsrisiko dort nicht größer als wenn sie zu Hause blieben.
Da Urlaub und Erholung die Allgemeingesundheit und damit das Immunsystem stärken, ist das Beherbergungsverbot insoweit bezüglich des Gesetzesziels sogar kontraproduktiv.
(4) Bestätigung des Ergebnisses durch § 28b Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 3 IfSG
Die oben vertretene und mit den Beispielen (1-3) verdeutlichte Auffassung findet ihre Bestätigung tendenziell darin, dass der Gesetzgeber selbst das Problem erkannt, allerdings nur unzureichende Konsequenzen daraus gezogen hat: Im ursprünglichen Gesetzentwurf war die Öffnung von zoologischen und botanischen Gärten uneingeschränkt verboten.66 Vom Gesundheitsausschuss wurde dann § 28b Abs. 1 Nr. IfSG dahingehend geändert, dass gemäß Halbsatz 3 die Außenbereiche von zoologischen und botanischen Gärten geöffnet werden dürfen, wenn angemessene Schutzund Hygienekonzepte eingehalten werden und die Besucher einen negativen Test vorweisen.67
dd) Die Verfassungswidrigkeit der FFP2-Maskenpflicht für Reisende im Fernverkehr
Gemäß § 28b Abs. 1 Nr. 9 IfSG sind Fahrgäste im öffentlichen Personennahund Fernverkehr zum Tragen einer FFP2oder vergleichbaren Maske verpflichtet.
Wie oben schon darlegt (C.I.4.), kann das länger andauernde Tragen einer FFP2-Maske gesundheitsschädlich sein. Deshalb sehen die einschlägigen Arbeitsschutzvorschriften
66 BT-Drs. 19/28444, S. 4.
67 BT-Drs. 19/28692, S. 8.
vor, dass Arbeitnehmer, die solche Masken während der Arbeit tragen müssen, regelmäßige Pausen einlegen müssen, in denen sie die Maske ablegen dürfen.
Aus diesem Grunde wurde vom Gesundheitsausschuss im Gesetzgebungsverfahren der ursprüngliche Entwurf geändert. Während der ursprüngliche Entwurf vorsah, dass das Kontroll- und Servicepersonal, soweit es in Kontakt mit Fahrgästen kommt, ebenso wie die Fahrgäste eine FFP2oder vergleichbare Maske tragen muss, wurde mit der Änderung bestimmt, dass für das Kontroll- und Servicepersonal die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Atemschutzmaske genügt.68 Diese Änderung hat der Gesundheitsausschuss damit begründet, dass nach den arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen eine FFP2-Maske aus Gesundheitsschutzgründen nur für einen begrenzten Zeitraum getragen werden dürfe.69
Wenn FFP2-Masken die Gesundheit der Arbeitnehmer beim Tragen über mehrere Stunden hinweg gefährden, kann das für Fahrgäste, die eine entsprechend lange Zeit im Zug fahren, im Prinzip nicht anders sein. Es gibt zwar insofern einen Unterschied zwischen Reisenden und Zugpersonal, als die Reisenden sitzen und das Zugpersonal überwiegend steht oder geht, also stärker körperlich belastet ist. Allerdings ist der Unterschied nicht sehr groß, denn es handelt sich nicht um eine sehr anstrengende körperliche Arbeit, und bei den pandemiebedingt ziemlich leeren Zügen wird es hinreichend Zeit für Pausen geben, die im Sitzen verbracht werden können. Zumindest für Reisende im Fernverkehr, die mehrere Stunden ununterbrochen die Maske tragen müssen, ist die Belastung mit derjenigen des Zugpersonals vergleichbar.
Berücksichtigt werden muss außerdem, dass die FFP2-Masken gegenüber den medizinischen Masken den Vorteil haben, dass sie den Träger der Maske schützen, während die medizinischen Masken nur die anderen Personen schützen. Wer sich nicht selbst schützen will, müsste deshalb eine medizinische Maske statt einer FFP2-Maske tragen dürfen.
Das Gesetz verpflichtet also die Reisenden im Fernverkehr zum Tragen einer Maske, deren Nutzen zum Schutz anderer Fahrgäste nicht ersichtlich ist, zumal jeder Fahrgast im Fernverkehr in der Regel einen Platz mit erheblichem Abstand zu anderen Fahrgästen hat, während die einzigen Personen, die ständig nahen Kontakt zu vielen verschiedenen Fahrgästen haben und daher zum Infektionsgeschehen beitragen könnten, nur eine medizinische Maske tragen müssen. Dieser Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist unverhältnismäßig und im Hinblick auf die nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung mit dem Zugpersonal willkürlich. Er verletzt die Reisenden im Fernverkehr (jedenfalls bei mehrere Stunden langen Reisen) in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und aus Art. 3 Abs. 1 GG.
3. Ergebnis
Der Inzidenzwert-Automatismus des § 28b Abs. 1 Satz 1 IfSG ist verfassungswidrig und verletzt die Bf. in allen ihren durch die Ge- und Verbote des § 28b Abs. 1 IfSG betroffenen Grundrechten.
68 BT-Drs. 19/28692, S. 9.
69 BT-Drs. 19/28732, S. 19.
Außerdem lassen sich Einschränkungen der Grundrechte in § 28b Abs. 1 Nr. 1-10 IfSG auch unabhängig vom Inzidenzwert-Automatismus nur teilweise rechtfertigen. Teilweise sind sie nicht erforderlich oder im engeren Sinne unverhältnismäßig und daher verfassungswidrig. Dies gilt für die nächtliche Ausgangssperre insgesamt, und es gilt für die Kontakteinschränkungen, soweit nur eine weitere Person und nicht auch ein Ehepaar einen Haushalt besuchen dürfen.
Die Öffnungsund Veranstaltungsverbote sind unverhältnismäßig, soweit auch solche Einrichtungen, Betriebe und Veranstaltungen betroffen sind, die durch ein Hygienekonzept das Infektionsrisiko praktisch ausschließen können. Dies gilt beispielsweise für die Außengastronomie, sofern sie mit hinreichenden Abständen und einem ausreichenden Hygienekonzept arbeitet.
Die Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske im öffentlichen Personennahund Fernverkehr lässt sich nicht rechtfertigen, soweit sie auch für längere Reise im Fernverkehr gilt.
IV. Staatliches Eigenhandeln als Alternative zum Lockdown
Wie oben schon erwähnt, wird die Wahrscheinlichkeit der Überlastung der Intensivstationen durch Umstände mitbestimmt, auf die der Staat Einfluss nehmen kann. Wenn die Zahl der verfügbaren Intensivbetten erhöht wird, sinkt die Wahrscheinlichkeit der Überlastung der Intensivstationen. Wenn erfolgversprechende Medikamente schnell zum Einsatz gebracht werden (z.B. Budesonid), sinkt die Zahl der schweren Krankheitsverläufe und damit die Wahrscheinlichkeit der Überlastung der Intensivstationen. Auch die Forcierung der Impfkampagne kann dazu beitragen.
Seit Beginn der Covid-19-Pandemie bis heute ist die als möglich vermutete Gefahr einer systemischen Überlastung der Intensivstationen das zentrale Argument, das den Corona-Lockdown – und jetzt wieder die „Bundes-Notbremse“ – rechtfertigen soll. Die Bundesregierung selbst hat nach der ersten Welle prognostiziert, dass es eine zweite Welle geben werde und auch die dritte Welle vorausgesagt. Sie hat aber offensichtlich nichts getan, um die Zahl der verfügbaren Intensivbetten zu erhöhen. Wenn die Notwendigkeit und die verfassungsrechtliche Rechtfertigungsfähigkeit des Lockdown davon abhängen, ob die Gefahr der Überlastung der der Intensivstationen besteht, dann sind die zuständigen Staatsorgane verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Zahl der verfügbaren Intensivbetten erhöht wird.
Während der Pandemie kam es stattdessen zu einer Verringerung der Zahl der verfügbaren Intensivbetten von über 30.000 auf unter 25.000. 70 Das mag vor allem an Personalmangel gelegen haben. Aber in einer Situation, in der die weitestreichenden Freiheitseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Wirtschaft weitgehend lahmlegen und Tausende von Betrieben in existentielle Nöte bringen, muss der Staat alles daransetzen, die dringend benötigten Pflegekräfte anzuwerben und vorhandene Pflegekräfte durch Schulung für den Einsatz auf Intensivstationen zu befähigen. Dafür
70 Im Zeitraum vom Juli 2020 bis Januar 2021 sank die Zahl der verfügbaren Intensivbetten (ohne die Notfallreserve) von über 30.000 auf unter 25.000, also um rund 17 %, Quelle: DIVI-Intensivregister, Gesamtzahl gemeldeter Intensivbetten (Betreibbare Betten und Notfallreserve), Stand:
23.2.2021, https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/zeitreihen (abgerufen am 23.2.2021).
müssen die nötigen finanziellen Ressourcen bereitgestellt werden, zumal die Kosten sehr viel geringer sind als die Kosten des Lockdown, die man auf diese Weise vermeiden könnte. Diese Verpflichtung folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, denn wenn der Staat mit eigenen Mitteln eine Gefahr abwenden kann, darf er nicht die Bürger (die ja nicht Verursacher der Gefahr sind) durch umfangreiche Freiheitseinschränkungen zur Gefahrenabwehr heranziehen.
Hat der Staat diese Pflicht verletzt, ändert das nichts daran, dass der Lockdown sich in einer konkreten Gefahrensituation rechtfertigen lässt. Aber er ist dann verpflichtet, so schnell wie möglich mit eigenen Mitteln dafür zu sorgen, dass die Freiheitseinschränkungen nicht mehr erforderlich sind und aufgehoben werden können. 71
Nach vielen Monaten immer wieder verlängerter Lockdowns muss der Staat jetzt endlich alles tun, was die Freiheitseinschränkungen überflüssig macht. Gerade hat RKI-Präsident Wieler gesagt, das Virus lasse sich nicht ausrotten; wir müssten dauerhaft mit dem Virus leben.72 Wir können aber nicht dauerhaft im Lockdown leben.
Was folgt daraus verfassungsrechtlich? Sofern sich die mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite beschlossenen Maßnahmen überhaupt rechtfertigen lassen, müssen sie begleitet werden von einem Plan zur Beseitigung der Umstände, die den Lockdown notwendig machen. Die Impfkampagne ist aus Sicht der Bundesregierung nicht etwa ein Baustein dieses Plans, sondern einen anderen Plan hat sie überhaupt nicht. Man kann sich aber auf den dauerhaften Erfolg des Impfens allein nicht verlassen. Mutanten können diesen Erfolg schnell zunichte machen. Daher ist es ein zwingendes Gebot freiheitsschützender Vorsorge, zumindest die Intensivstationen auszubauen. Hierauf haben alle Menschen einen verfassungsrechtlichen Anspruch, deren Grundrechte durch Corona-Maßnahmen eingeschränkt worden sind und weiterhin eingeschränkt werden.
Es besteht in der rechtswissenschaftlichen Literatur und in der Rechtsprechung Einvernehmen darüber, dass freiheitseinschränkende Maßnahmen umso intensiver werden, je länger sie dauern,73 und dass mit der Dauer der Maßnahmen die Anforderungen an die Rechtfertigung anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips ansteigen. Nur praktisch folgt daraus nichts, wenn jeder Lockdown zunächst auf ein paar Wochen begrenzt und die Freiheitseinschränkungen damit gerechtfertigt werden, dass sie ja nicht lange dauern. So reiht sich eine Lockdown-Verlängerung an die andere, immer mit derselben Begründung, dass es nur kurz dauere. Ob diese Rechtfertigung heute noch im Hinblick auf die Covid-
19-Pandemie trägt, ist nicht Gegenstand dieser Verfassungsbeschwerde. Aber gerade auch im Hinblick auf die zeitliche Dimension des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist
71 Dietrich Murswiek, Schutz – Freiheit – Covid. Zum Verhältnis von Schutzpflicht und Abwehrrechten in der Pandemie, erscheint in: DÖV 2021, Preprint http://dietrich-murswiek.de/corona- krise.html.
72 https://www.zeit.de/news/2021-04/19/rki-praesident-wieler-koennen-corona-nicht-ausrotten(abgerufen am 21.4.2021).
73 Vgl. z.B. Kingreen, JA 2020, S. 1019 (1029); Dietrich Murswiek, Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, NVwZ-Extra 5/2021, S. 1 (14),
https://rsw.beck.de/rsw/upload/NVwZ/Extra_5-2021.pdf.
der Staat verpflichtet, alles zu tun, damit – aus seiner Perspektive – der Lockdown nicht immer wieder verlängert werden muss.
Statt nur einfach die gegenwärtige Rechtfertigung des Lockdown festzustellen, muss das Bundesverfassungsgericht, sofern es die Rechtfertigung bejaht, sie mit der Feststellung der Verpflichtung verbinden, dass die Bundesregierung alles tun muss, um die Zahl der verfügbaren Intensivbetten in einem zur Vermeidung eines Dauerlockdown notwendigen Ausmaße zu erhöhen.
Das mit dieser Verfassungsbeschwerde angegriffene Gesetz verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten, weil es die Regelung der freiheitseinschränkenden Maßnahmen nicht mit einem Konzept zur Beseitigung der Gründe für die Freiheitseinschränkungen verbindet. Diese Feststellung kann das Bundesverfassungsgericht treffen, ohne das Gesetz für verfassungswidrig zu erklären, soweit es nicht bereits aus anderen Gründen verfassungswidrig ist.
D. Annahmevoraussetzungen
Nach § 93a Abs. 2 BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen, soweit sie grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn es zur Durchsetzung der Grundrechte angezeigt ist.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet (dazu oben B., C.).
2. Die Verfassungsbeschwerde hat grundsätzliche Bedeutung
Nie zuvor hat der Gesetzgeber einen Automatismus beschlossen, der die In-Geltung-Setzung schwerwiegender Freiheitseinschränkungen für die gesamte Bevölkerung in einem Landkreis oder Stadtkreis auslöst, ohne dass zuvor ein zuständiges Staatsorgan prüft, ob unter den konkreten Gegebenheiten die grundrechtlichen Voraussetzungen für die freiheitseinschränkenden Maßnahmen erfüllt sind, ob sie nämlich situationsbezogen erforderlich und angemessen sind. Es bedarf der verfassungsgerichtlichen Klärung, ob ein solcher Automatismus mit dem Rechtsstaatsprinzip und mit den Grundrechten der Betroffenen vereinbar ist.
Angesichts des Umstandes, dass das Gesetz seinem materiellen Gehalt nach ein Maßnahmegesetz ist, weil es mit Maßnahmen auf eine konkrete Gefahrensituation reagieren will, ist zudem die Frage zu klären, ob es mit dem Grundgesetz, insbesondere mit dem Rechtsstaatsprinzip und mit Art. 19 Abs. 4 GG, vereinbar ist, dass die Anordnung der Maßnahmen unmittelbar durch einen im Gesetz bestimmten Auslösemechanismus, also ohne Anordnung durch die vollziehende Gewalt, dazu führt, dass den Betroffenen der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz entzogen wird und ihnen nur der Weg zum Bundesverfassungsgericht mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz bleibt. Das Bundesverfassungsgericht kann aber nur das Gesetz als solches prüfen, nicht hingegen die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahmen, die in einer bestimmten Situation in einem Landkreis oder einer kreisfreien Staat durch den Mechanismus ausgelöst werden.
Hierauf bezogen gibt es überhaupt keinen Rechtsschutz. Eine solche Regelungskonstellation ist völlig neu und bedarf einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung.
Noch nie hat sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage befassen müssen, ob der Staat verpflichtet ist, durch eigenes Handeln Umstände zu beseitigen, die eine Gefahrensituation begründen, statt zur Beseitigung der Gefahr flächendeckend die Freiheit von Menschen zu beschränken, die für die Gefahr nicht verantwortlich sind. Klärungsbedürftig ist insoweit, ob diese Pflicht objektiv besteht, ob der Einzelne durch freiheitsbeschränkende Maßnahmen Betroffene einen Anspruch darauf hat und was verfassungsprozessual daraus folgt.
Grundsätzliche Bedeutung hat auch die geltend gemachte Grundrechtsverletzung durch die Ausgangssperre. Durch das Bundesverfassungsgericht ist bisher noch nicht geklärt, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine die ganze Bevölkerung in einem Stadtoder Landkreis betreffende Ausgangssperre mit den Grundrechten vereinbar ist.
Die Verfassungsbeschwerde hat offensichtlich über den Schutz der Grundrechte der Bf. hinausreichende allgemeine Bedeutung. Von dem angegriffenen Gesetz sind über 80 Millionen Menschen betroffen. Da es keinen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gibt, muss das Bundesverfassungsgericht mit Tausenden von Verfassungsbeschwerden zur Durchsetzung individueller Grundrechte rechnen, wenn es nicht schnell eine Grundsatzentscheidung trifft.
3. Soweit darüber hinaus unabhängig von dem Inzidenzwert-Automatismus die Verletzung von Grundrechten geltend gemacht wird, ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der Grundrechtegeboten.
Zur Durchsetzung der Grundrechte ist eine Verfassungsbeschwerde nicht nur dann geboten, wenn den Bf. durch die Versagung der Entscheidung ein besonders schwerer Nachteil droht, sondern auch dann, wenn die geltend gemachte Grundrechtsverletzung auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht.74
Dies trifft hier zu. Indem der Gesetzgeber bei den Öffnungsverboten und beim Beherbergungsverbot überhaupt nicht in Erwägung gezogen hat, dass die betroffenen Einrichtungen, Betriebe oder Gaststätten unter Umständen Lösungen entwickeln könnten, die eine Infektionsgefahr praktisch ausschließen, hat er den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz grundlegend verkannt. Er hat nicht beachtet, dass ein gesetzliches Verbot nicht nur im Regelfall, sondern in jedem Einzelfall zur Erreichung des gesetzlichen Gemeinwohlziels erforderlich und auf dieses Ziel bezogen angemessen sein muss, sondern eine schematische Lösung beschlossen, die eine einzelfallbezogene Differenzierung ausschließt. Er hat mit anderen Worten völlig ignoriert, dass die Rechtsfolgen freiheitsbeschränkender Regelungen auch in atypischen Fällen verhältnismäßig sein müssen, was sich gesetzestechnisch durch differenzierte Regelungen oder durch Ausnahmevorschriften gewährleisten ließe. Die völlige Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in bezug auf Fälle,
74 Vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 93a Rn. 58 m.w.N.
in denen bei Öffnung der Einrichtung unter im Einzelfall genau beschriebenen Voraussetzungen die Infektionsgefahr praktisch ausgeschlossen ist [oben C.III.2.c) cc)], führt dazu, dass Millionen von Menschen in ihrer Freiheit und ihrer Lebensgestaltung verfassungswidrig beschränkt werden.
Entsprechendes gilt für die Verstöße von § 28b Abs. 1 Nr. 1 und 2 IfSG gegen die Grundrechte der Betroffenen, die unter dem Aspekt geltend gemacht wurden, dass die Infektionsgefahr sich nicht erhöht, wenn statt einer einzelnen Person ein im selben Haushalt lebender Eheoder Lebenspartner einen anderen Haushalt besucht, oder wenn zwei Eheoder Lebenspartner nach 22 Uhr gemeinsam statt allein spazierengehen oder joggen. Auch diesbezüglich hat der Gesetzgeber an die Erforderlichkeit zur Infektionsbekämpfung offensichtlich überhaupt nicht gedacht und ebenso offensichtlich die Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 GG (bzw. für Lebenspartner Art. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) überhaupt nicht beachtet. Auch diese grobe Verkennung der Grundrechte betrifft Millionen von Menschen.
Die Verfassungsbeschwerde ist somit zur Entscheidung anzunehmen.
(Professor Dr. Dietrich Murswiek)
Anlagen:
1.-5. Vollmachten der Bf.
6. Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite
7. Entwurf des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen
Lage von nationaler Tragweite
8. Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses
9. Bericht des Gesundheitsausschusses
10. Samuel de Haas / Georg Götz / Sven Heim, Measuring the effects of COVID-19related night curfews:Empirical evidence from Germany, 21.4.2021